#Interview

“Wir haben zwei Jahre unter der Wahrnehmungsschwelle gearbeitet”

Der Berliner Jobdienst Medwing kümmert sich um Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Mehrere bekannte Geldgeber investierten kürzlich beachtliche 28 Millionen Euro in Medwing. Vor allem international will das junge Unternehmen weiter wachsen.
“Wir haben zwei Jahre unter der Wahrnehmungsschwelle gearbeitet”
Donnerstag, 2. Juli 2020VonAlexander Hüsing

Das Berliner Startup Medwing , das 2017 von Johannes Roggendorf, Alana Tung und Timo Fischer gegründet wurde, positioniert sich als Jobdienst rund um das Gesundheitswesen. Cathay Innovation sowie die Altinvestoren Northzone, Atlantic Labs und Cherry Ventures investierten kürzlich 28 Millionen Euro in Medwing. Derzeit ist das junge HR-Startup in Deutschland, Frankreich und Großbritannien unterwegs. Zuletzt wirkten rund 200 Mitarbeiter für Medwing.

“Mittlerweile sind über 200.000 Kandidaten in unserem Pool angemeldet, über 15.000 kommen monatlich hinzu. Damit sind wir der größte Personalpool im Gesundheitswesen in Europa. Über 100 Pflegekräfte finden monatlich über uns einen festen Job in einer neuen Einrichtung, parallel werden Monat für Monat über 2.000 Schichtretter an Kliniken und Pflegeeinrichtungen vermittelt. Wir arbeiten aktuell mit über 2.500 Kliniken und Pflegeeinrichtungen in Deutschland zusammen”, sagt Gründer Roggendorf zum Stand der Dinge bei Medwing.

Derzeit bereitet das Unternehmen die Expansion in andere Länder vor. “Die bestehenden Märkte werden wir parallel skalieren und sowohl für die Kandidaten als auch für die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen immer mehr Services anbieten. Damit wollen wir den Einrichtungen im Gesundheitswesen helfen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, sodass wir langfristig mehr Arbeitnehmer in der Branche halten und hoffentlich viele Berufseinsteiger für die Branche begeistern können”, führt Roggendorf weiter aus.

Im Interview mit deutsche-startups.de sprechen Roggendorf und Mitstreiter Fischer außerdem über Recruiting, Corona und Markenrechte.

Wie würdest du deiner Großmutter Medwing erklären?
Medwing hilft Kranken-, Altenpflegern und Ärzten, die Jobs zu finden, die am besten zu ihnen passen. Wir bieten Vollzeit-, Teilzeit- und Nebenjobs sowie flexibles Arbeiten in Zeitarbeit. Medwing möchte es jeder Fachkraft ermöglichen, so zu arbeiten, wie es zum individuellen Lebensentwurf passt. Arbeitgeber, also Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen zum Beispiel, entlasten wir bei der Kandidatensuche und können bei Bedarf auch kurzfristig Schichten besetzen.

Wie genau funktioniert das?
Wir unterstützen in der Bewerbungsphase, in der Karriere- und Fortbildungsplanung. Dafür setzen wir moderne Technologie ein: unsere App, unsere Matching-Technologie und unsere Online-Plattform, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindet. Das hilft, Bewerbungsprozesse zu vereinfachen und die Kommunikationswege sehr kurz zu halten. Am Ende sorgen wir so für mehr Zufriedenheit und gut gelauntes Personal vor Ort und wir können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich kein Patient unterversorgt fühlen muss oder gar Stationen zeitweise schließen müssen – das kommt tatsächlich gerade in Deutschland immer wieder vor. Kurzum: Unsere Mission ist es, das Arbeiten in den Gesundheitsberufen attraktiver zu gestalten und den weltweiten Personalmangel im Gesundheitswesen zu beheben.

Hat sich das Konzept seit dem Start irgendwie verändert?
Unser Fahrplan hat sich nicht wirklich verändert. Von Beginn an haben wir die technische Infrastruktur aufgebaut, um eine Matching-Plattform und einen sehr großen Kandidatenpool managen zu können. Mittlerweile lässt sich immer mehr automatisieren, der Marktplatz wird liquider und wir können weitere Themengebiete erschließen, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben. Inzwischen sind wir bei über 200.000 Pflegekräften, die sich auf unserem Portal angemeldet haben und die bundesweit im Einsatz sind. Auf Arbeitgeberseite arbeiten wir mit über 2.500 Einrichtungen zusammen. Etwas überspitzt gesagt: Könnten wir an einem Tag alle vermitteln, hätte sich das mit dem Pflegenotstand über Nacht erledigt.

Kürzlich konntet ihr 28 Millionen Euro einsammeln. Wofür braucht ihr so viel Geld?
Unsere jüngste Finanzierungsrunde war für uns kein Ziel per se, sondern hilft uns dabei, die nötigen Investments zu machen, um unsere Vision zu erfüllen. Wir verstehen das auch als wichtiges Zeichen an alle jungen Health-Tech- und Digital-Health-Unternehmen und als Hinweis, dass hier ein Umdenken hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung und Wertschätzung der Menschen stattfindet, die sich tagtäglich um unsere Gesundheit kümmern. Unternehmerisch gesehen brauchen wir solche Volumen auch. Eben weil wir uns zum Ziel gesetzt haben, einen wichtigen Teil des Gesundheitswesens – nämlich das Recruiting, das Personalmanagement und die Schichtplanung zu digitalisieren, um medizinische und pflegerische Berufe wieder deutlich attraktiver zu machen. Wir bauen hier also tatsächlich einen Teil des Gesundheitssystems um. Da sind die Erwartungen in vielen Bereichen sehr groß und sollen auch erfüllt werden. Es ist also deutlich komplexer als einfach nur eine App oder Ähnliches zu programmieren. Außerdem haben wir Medwing von Anfang an so gedacht, dass wir auch international aktiv sein werden, was wir jetzt noch weiter ausbauen. Denn Personal ist in allen Gesundheitssystemen der Welt ein wichtiges Thema – und genau mit diesem globalen Ansatz entwickeln wir unsere technologischen Lösungen.

Die Corona-Krise traf die Startup-Szene zuletzt hart. Wie habt ihr die Auswirkungen gespürt?
Wir sind vor Corona angetreten, um auf den Personalmangel und die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen hinzuweisen und um aufzuzeigen, wie man das Gesundheitssystem modernisieren kann und muss. Mehrere hunderttausend Ärzte und Pflegekräfte sind nicht mehr in ihrem Beruf aktiv, weil die Arbeit anstrengend, unterbezahlt und nur schwer vereinbar ist mit Privatleben oder Familie. Das war auch für viele andere ein wichtiges Thema, aber eben bislang auch nur ein Thema unter vielen. Und dann: Corona. Plötzlich sprachen alle von Systemrelevanz, darüber, wie wichtig medizinisches und pflegerisches Personal ist, dass man hier mehr Wertschätzung entgegenbringen muss. Es wurde gefragt, wie man jetzt schnell die stille Reserve aktivieren kann. Also all diejenigen, die zum Beispiel bewusst auf eine pflegerische Ausbildung gesetzt, aber aufgrund der starren Schicht-Systeme und der Unzufriedenheit im Job, einfach die Branche gewechselt haben. Viele Augen richteten sich dann auf uns, weil wir schnell Fachkräfte finden, Bewerbungsprozesse effektiv und passgenau durchführen können. Wir waren also mitten im Zentrum des Geschehens.

Wie habt ihr darauf reagiert?
Im Team haben wir uns dann gefragt: wie können wir in dieser Situation helfen? Innerhalb nur weniger Tage haben wir uns dann einfach an unserer Medwing-Plattform orientiert und die eigenständige bundesweite Corona-Hilfs-Initiative “Wir wollen helfen” gestartet. Von unserer Seite haben wir das pro bono gemacht – also kostenfrei für alle. Das war uns wichtig. Wir wollen nicht von einer Krise profitieren. Über die Initiative haben sich in nur wenigen Wochen über 10.000 Gesundheitsfachkräfte und Freiwillige angemeldet, darunter auch viele Job-Ru?ckkehrer. Die Bereitschaft zu helfen, war innerhalb der Bevölkerung enorm. Das hat uns sehr berührt, motiviert und gezeigt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden mit unserer Mission. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer entlasten das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und unterstu?tzen Privathaushalte, die Hilfe benötigen. Durch den Einsatz der technologischen Medwing-Infrastruktur inklusive mobiler Kommunikation hat sich die Initiative als ein wichtiges und sehr responsives Instrument zur Aktivierung von Fachkräften, Freiwilligen und der stillen Fachkräfte-Reserve etabliert, das unter anderem auch vom Bundesgesundheitsministerium unterstu?tzt und beworben wird. Die Plattform “Wir wollen helfen” spricht die gesamte Gesellschaft an und fungiert langfristig als Bereitschaftspool, der in Notfällen abgerufen werden kann.

Wie ist überhaupt die Idee zu Medwing entstanden?
Freunde und Verwandte, die als Ärzte oder in der Pflege arbeiten, haben uns immer wieder Stories aus dem Alltag erzählt. Über Stress, Unzufriedenheit, Unterbesetzung, Schlafmangel, geringe Wertschätzung, Unvereinbarkeit von Schichtarbeit und Privatleben. Am Schluss kam immer: Da müsstet ihr als Gründer mal was machen. Johannes hat sich dann den Markt angesehen und schnell gemerkt: die Lage ist tatsächlich sehr widersprüchlich. Einerseits wird allerorten von Pflegenotstand gesprochen, die WHO nennt den Fachkräftemangel “eine der größten Herausforderungen des Gesundheitswesens”, andererseits ist die Fluktuation und die Quote der Arbeitnehmer, die ihren Beruf eigentlich sehr mögen, aber trotzdem nach nur wenigen Jahren aussteigen, extrem hoch. Der Grund ist oft ein klassisches Matching-Problem der Erwartungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Hier haben wir angesetzt und mit unserer Matching-Plattform und der mobilen Anbindung der Kandidaten über die App eine sehr, effiziente und transparente Lösung geschaffen.

Wie genau funktioniert eigentlich euer Geschäftsmodell?
Medwing erhält eine Gebühr für jeden vermittelten Kandidaten vom Arbeitgeber – unabhängig davon, ob eine Voll- oder Teilzeitstelle zu besetzen ist oder ein “Schichtretter” für das Wochenende gesucht wird. Jedoch wird unser Honorar erst dann fällig, sobald die Personalsuche erfolgreich abgeschlossen ist. Sollte ein Bewerber frühzeitig wieder aussteigen, gibt es eine Rückerstattung. Für die Kandidaten ist unser Service kostenlos – inklusive der Optimierung der Lebensläufe oder der langfristigen Karriereberatung durch unsere Medwing-Coaches. Die Arbeitgeber können auch technische Unterstützung und Services bei uns erwerben – beispielsweise Schichtplanungs- oder Personalpool-Management-Lösungen.

Wie hat sich Medwing seit der Gründung entwickelt?
Bislang sind wir mit der Entwicklung sehr zufrieden. Wir arbeiten in einem Markt, in dem ein Bedarf an Angeboten herrscht, wie unseren. Es gibt zudem kein anderes Unternehmen in Deutschland und Europa, sogar weltweit nicht, das ähnlich aufgestellt ist: wir kombinieren skalierbare Technik mit persönlicher, menschlicher Karriereberatung. Wir machen keinen Unterschied in der Beratung und Betreuung von Ärzten und anderem medizinischen oder pflegerischen Personal. Ein Journalist hat über uns einmal geschrieben, dass wir Pflegekräften so viel Aufmerksamkeit zuwenden würden, wie anderswo nur Manager erhielten. Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit.

Nun aber einmal Butter bei die Fische: Wie groß ist Medwing inzwischen?
Mittlerweile sind über 200.000 Kandidaten in unserem Pool angemeldet, über 15.000 kommen monatlich hinzu. Damit sind wir der größte Personalpool im Gesundheitswesen in Europa. Über 100 Pflegekräfte finden monatlich über uns einen festen Job in einer neuen Einrichtung, parallel werden Monat für Monat über 2.000 Schichtretter an Kliniken und Pflegeeinrichtungen vermittelt. Wir arbeiten aktuell mit über 2.500 Kliniken und Pflegeeinrichtungen in Deutschland zusammen. Medwing selbst beschäftigt momentan mehr als 200 Angestellte aus über 30 Nationen und ist bereits in Deutschland, Frankreich und Großbritannien aktiv.

Blicke bitte einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Jetzt bitte nicht lachen. Aber wir hatten uns die Markenrechte nicht so gesichert, wie wir es hätten machen sollen. Hier gab es dann nachträglichen Klärungsbedarf. Wir haben diese Hürde aber letztendlich genommen und sind allen Beteiligten und Verhandlungspartnern sehr dankbar, dass alles so unkompliziert gelöst wurde.

Und wo habt ihr bisher alles richtig gemacht?
Wir gehen sehr strategisch, fokussiert und reflektiert vor. Daher haben wir auch erstmal zwei Jahre unter der Wahrnehmungsschwelle gearbeitet, Ergebnisse produziert, Strukturen und Netzwerke aufgebaut. Die Zeit haben wir uns genommen, damit wir zum einen erstmal die nötige kritische Masse erreichen, mit der man dann als Partner im Gesundheitssystem tatsächlich wahr- und ernstgenommen wird. Zum anderen wollten wir einen unternehmerischen und technologischen Vorsprung herausarbeiten, um in unserem Bereich eine gute Position einzunehmen, die uns auch nicht so schnell streitig gemacht werden kann. Das war uns sehr wichtig und hat auch gut funktioniert.

Wo steht Medwing in einem Jahr?
Momentan sind wir schon in Deutschland, Frankreich und UK aktiv, nach und nach werden weitere Länder hinzukommen. Die bestehenden Märkte werden wir parallel skalieren und sowohl für die Kandidaten als auch für die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen immer mehr Services anbieten. Damit wollen wir den Einrichtungen im Gesundheitswesen helfen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, sodass wir langfristig mehr Arbeitnehmer in der Branche halten und hoffentlich viele Berufseinsteiger für die Branche begeistern können.

Tipp: 5 Fakten über den millionenschweren Jobdienst Medwing

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Foto (oben): Medwing

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.