#Interview

“Wir brauchen keine Gründer aus ‘Mangel an Alternativen'”

"Wenn jedes Jahr nur 1 % der aktuellen Studierenden im Ruhrgebiet ein Startup gründen würden und dabei in Zweierteams agieren, dann würden Jahr für Jahr über 1.250 neue Startups entstehen!", rechnet Oliver Weimann, Geschäftsführer vom ruhr:HUB, vor.
“Wir brauchen keine Gründer aus ‘Mangel an Alternativen'”
Montag, 16. März 2020VonAlexander Hüsing

Immer mehr Menschen im Ruhrgebiet machen ihr eigenes Ding, verfolgen ihren ganz eigenen Traum, gründen Startups und schaffen so die in der Region dringend benötigten Arbeitsplätze. Diese Unternehmen sind die Zukunft des Ruhrgebiets, diese Jungfirmen beweisen, dass das Revier mehr zu bieten hat als seine dreckige Vergangenheit. “Wir sind das größte Ballungsgebiet in Deutschland, auch wenn die vorherrschende Mentalität vielleicht noch nicht ganz im Startup-Modus angekommen ist. Aktuell sind wir davon aber noch ein ganz großes Stück entfernt und da hilft nur Startup als Option immer und immer wieder zu präsentieren und die begeisterungsfähigen Menschen in der Region weiter zu informieren und den Mut und die Neugierde zu stärken”, sagt Oliver Weimann, Initiator des RuhrSummit und Geschäftsführer vom ruhr:HUB, dem Anlaufpunkt für Startups in der Region. Im Interview mit deutsche-startups.de spricht Weimann unter anderem Rollenvorbilder, begeisterungsfähige Menschen und Absorber von Talenten. 

Im Ruhrgebiet entstehen seit einigen Jahren immer mehr Startups. Wie nimmst Du die Startup-Szene vor Ort derzeit wahr?
Ich verfolge und unterstütze die “Szene” mittlerweile seit 2012 und sehe vor allem drei wesentliche und sehr erfreuliche Entwicklungen. Erstens ist das Thema Startup im Jahr 2020 deutlich präsenter, Veranstaltungen gibt es – genauso wie überall anders auch – unzählige und junge Menschen nehmen Startup langsam als gegebene Option war. Zweitens gibt es immer mehr Rollenvorbilder und auch im Ruhrgebiet Startups, die nennenswerte Investments verzeichnen können und Drittens vielleicht am wichtigsten, nehme ich wahr, dass die Qualität – auch die der Early Stage-Startups – deutlich zunimmt. Nicht alle Gründer haben ihre Hausaufgaben gemacht, aber immer mehr wissen wirklich wovon sie reden.

In der deutschen Startup-Hauptstadt Berlin gibt es mehr als 3.000 Startups, die rund 80.000 Menschen beschäftigen. Ist dies auf lange Sicht auch im Ruhrgebiet möglich?
Dies muss zumindest der Anspruch sein! Wenn jedes Jahr nur 1 % der aktuellen Studierenden im Ruhrgebiet ein Startup gründen würden und dabei in Zweierteams agieren, dann würden Jahr für Jahr über 1.250 neue Startups entstehen!

Wo steht das Ruhrgebiet denn aktuell?
Wir sind das größte Ballungsgebiet in Deutschland, auch wenn die vorherrschende Mentalität vielleicht noch nicht ganz im Startup-Modus angekommen ist. Aktuell sind wir davon aber noch ein ganz großes Stück entfernt und da hilft nur Startup als Option immer und immer wieder zu präsentieren und die begeisterungsfähigen Menschen in der Region weiter zu informieren und den Mut und die Neugierde zu stärken.

Was genau zeichnet denn überhaupt die Startzup-Szene im Ruhrgebiet aus?
Die Startup-Szene im Ruhrgebiet ist geprägt von B2B-Startups und natürlich von den herausragenden Clustern an den hiesigen Hochschulen. Das Thema Cyber Security ist durch die Uni in Bochum und die FH in Gelsenkirchen exzellent besetzt. Dies führt zu mehreren Ausgründungen in jedem Jahrgang und es kann wunderbar beobachtet werden, wie jungen Startups von den etwas erfahrenen Vorgängern profitieren – durch Kontakte, Erfahrungsaustausch oder gemeinschaftliche Kundenprojekte. Überdies sind die Themen IndustrialTech – durch die Nähe zu riesigen Industrie – GreenTech, eHealth und allgemein SaaS gut besetzt und spiegeln die Szene in der Region gut wieder. Im Optimalfall gibt es erste B2B-Kunden direkt aus der Umgebung und hieraus entsteht ein wirklich marktfähiger Service oder Produktangebot, welches bestenfalls direkt international vermarktet werden kann.

Das Ruhrgebiet ist generell wirtschaftlich gesehen eher ein Sorgenkind. Ist das jetzt ein guter oder ein schlechter Nährboden für Startups?
Beides! Aktuell läuft eine große Kampagne für die “Stadt der Städte”, in welcher die Vorteile “hohe Lebensqualität”, “geringes Mietniveau” und “viele Fachkräfte” beworben werden. Das teile ich zu 100 % und freue mich sehr darüber. Bei der gewählten Formulierung schwingt jedoch auch immer eine gewisse Grundhaltung mit. Hierzu bleibt zu sagen, wir brauchen KEINE Gründer aus “Mangel an Alternativen”, sondern die Besten eines Jahrgangs – mit Visionen, Überzeugungen und dem Potenzial Menschen, Investoren und Kunden vom eigenen Thema begeistern zu können.

Im Ruhrgebiet gibt es viele große Unternehmen und Konzerne. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil für junge Unternehmen?
Erstmal ist dies natürlich positiv! Aktuell sind die meisten Unternehmen aus der Region nicht als Einstellungswunder verschrien, so dass diese als massive Absorber von Talenten nicht allzu stark in Erscheinung treten. Auf der anderen Seite haben viele dieser Unternehmen verstanden, dass sie Startups als externe Innovationen nutzen können oder müssen. In diesem Kontext dienen die hiesigen Unternehmen als erste Pilot- oder Referenzkunden, was für die Startups natürlich aus mehrfacher Hinsicht gut ist. Trotzdem sieht man natürlich, dass ein gewisser Mentalitätskonflikt zu Geschwindigkeitsverlusten führt und hier immer wieder Moderatoren und Unterstützer mit Erfahrungen aus beiden Welten gebraucht werden.

Was läuft insgesamt gesehen im Ruhrgebiet in Sachen Startups und Gründertum schon gut?
Wie bereits gesagt freue mich darüber, dass die Gründer deutlich weniger Naivität an den Tag legen. Es gibt ein Verständnis für Investments, eine grundsätzlich häufig korrekte Einschätzung der Erwartungshaltung potenzieller Kunden sowie einen grundsätzlichen Konsens darüber, welche Maßnahmen und Aktivitäten den Startups sowie den KMU konkret helfen. Mittlerweile kann man erkennen, dass der stringente Durchgang von Hochschule über begleitende Aktivitäten zu konkreter Unterstützung von Startups – nicht nur lokal, sondern wirklich regional – ganz gut funktioniert. Ich sehe bei einigen kritischen Kennziffern eine signifikante Steigerung und klare Tendenz nach oben, so dass ich persönlich davon überzeugt bin, dass wir in den kommenden Jahren deutlich mehr erfolgreiche Startups in und aus der Region Ruhr sehen werden – in allen Themenbereichen, vor allem aber in Cyber Security, Analytics, AR/VR, Robotics, B2B-Services, SaaS, eHealth und GreenTech bzw. EnvironmentalTech.

Was dagegen läuft noch nicht optimal?
Auf Seiten der Startups fehlt manchmal die Gier wirklich „groß zu denken“ und die Welt verändern zu wollen. Viele Gründer sind zufrieden profitable Geschäftsmodelle zu entwickeln und sozusagen die soliden KMU von morgen zu bauen. Dies ist auch grundsätzlich überhaupt nicht verwerflich, allerdings zwingt dies die Gründer auf klassisches VC zu verzichten und Geschwindigkeit zu verlieren. Auf Seiten der Institutionen gibt es mehr und mehr Überlappungen und erhöhten Koordinationsaufwand. Wir sprechen einfach über 53 Städten und Kommunen, welche faktisch ineinander übergehen und eigentlich nur gemeinsam gedacht werden können. Eine unfassbar große Chance neue Technologie gemeinsam zu nutzen und beispielsweise eine echte “Smart Region“ zu bauen, gleichzeitig aber auch immer wieder die Versuchung sich mit eigenen kleinen Initiativen und Aktivitäten ins rechte Licht zu rücken, und nicht nur ans große Ganze zu denken. Und schlussendlich sind viele der großen Unternehmen der Region seit einiger Zeit doch wirklich eher mit sich selbst beschäftigt, als stringent mit der technischen, konzeptionellen und gestalterischen Zukunft.

Wo siehst Du die Startup- und Digital-Szene im Ruhrgebiet in fünf Jahren oder gar in zehn Jahren?
Ich hoffe inständig, dass es uns oder besser gesagt einem talentierten Gründerteam gelingt in den kommenden fünf bis zehn Jahren das erste Unicorn in dieser Region zu etablieren. Dies hätte den Effekt, dass viele reiche erste Mitarbeiter aus diesem Konstrukt herauskommen und anfangen als aktive Business Angel bereit sind die Szene weiter nach vorne zu treiben und hohe Risiken einzugehen. Dies wäre eine Art Catching-Up zu den anderen Startup-Regionen in Deutschland und Europa. Dies wäre aus meiner Sicht der wichtigste Meilenstein, welcher erreicht werden muss.

Themenschwerpunkt Ruhrgebiet

#Ruhrgebiet: Gemeinsam mit dem ruhr:HUB berichtet deutsche-startups.de regelmäßig über die Startup-Szene im Ruhrgebiet. Mit hunderten Startups, zahlreichen Gründerzentren und -initativen, diversen Investoren sowie dutzenden Startup-Events bietet das Ruhrgebiet ein spannendes Ökosystem für Digital-Gründer – mehr im Startup Guide Ruhrgebiet. Das Buch “Wann endlich grasen Einhörner an der Emscher” wiederum erzählt die spannendsten Startup- und Grown-Geschichten aus dem Ruhrgebiet.

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Foto (oben): ruhr:Hub

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.