#Interview

“Im Recruitingprozess haben wir uns immer wieder von makellosen CVs blenden lassen”

Bei Fertilly dreht sich alles um Fruchtbarkeit, "Unser Ziel ist es, mit Fertilly die größte digitale Fruchtbarkeitsklinik in Europa aufzubauen, bei der die Patient:innen während des gesamten Prozesses unterstützt werden", sagt Gründer Christoph Müller-Guntrum.
“Im Recruitingprozess haben wir uns immer wieder von makellosen CVs blenden lassen”
Montag, 8. August 2022VonAlexander Hüsing

Das Berliner Startup Fertilly, das 2019 von Christoph Müller-Guntrum als Dein Kinderwunsch gegründet wurde, berät Frauen, Männer und Paare zu den Themen Fruchtbarkeit, Kinderwunsch und Familienplanung. TA Ventures, IBB Ventures, Wille Finance, Sanner Ventures und mehrere Business Angels investierten bereits in die Jungfirma. “Vielleicht die wichtigste Kennzahl: Mit der Unterstützung von Fertilly wurden bereits über 1.000 Babys geboren”, sagt Gründer Müller-Guntrum.

Im Interview mit deutsche-startups.de spricht der Fertilly-Macher außerdem über Spermatests, De-Stigmatisierung und Mentor:innen.

Wie würdest Du Deiner Großmutter Fertilly erklären?
Jedes siebte Paar in der westlichen Welt ist ungewollt kinderlos, und ohne Einwanderung wäre unsere demografische Entwicklung rückläufig. Wir wollen mit Fertilly als zentrale, digitale Anlaufstelle im Bereich Fruchtbarkeit, Kinderwunsch und künstliche Befruchtung fungieren. Durch die Digitalisierung wesentlicher Schritte wird der Prozess einer künstlichen Befruchtung für Patient*innen nicht nur angenehmer gestaltet, sondern auch deutlich verkürzt, da sich die Anzahl der notwendigen Klinikbesuche um rund die Hälfte reduzieren lässt.

War dies von Anfang an euer Konzept?
Mit Fertilly haben wir erfolgreich eine digitale Plattform aufgebaut, die ihren Patient:innen auf deren Reise zum Wunschkind zur Seite steht. Durch die Digitalisierung der Kernprozesse der Patient:innenjourney entlasten wir zusätzlich die Kinderwunschkliniken, da wir ihnen wesentliche Teile der Therapievorbereitung abnehmen, wie erste Konsultationsgespräche oder die Anamnese. Wir konnten in den vergangenen drei Jahren ein tiefes Verständnis für Patient:innenbefürfnisse aufbauen und unser Netzwerk mit führenden Kinderwunschzentren in ganz Europa ausbauen. Dabei gibt es weiteres Potential zur Vereinfachung der Patient:innenjourney, zum Beispiel durch Integration von Hormon- und Spermatests.

Wie genau funktioniert denn euer Geschäftsmodell?
Die Erstberatung über unsere Plattform ist für Patient*innen kostenlos. Dabei begleiten wir die Frauen und Paare, vom Aufklärungsgespräch über die Erstellung der Anamnese, bis hin zum Sammeln und Sichten relevanter ärztlicher Befunde. Die Patient*innen profitieren dabei von einem deutlich einfacheren und verkürzten Prozess. Auf der Klinikseite erbringen wir umfangreiche Vorleistungen, die ansonsten aufwändig in mehreren Terminen vor Ort erarbeitet werden müssten. Wir arbeiten derzeit mit über 30 qualitätsgeprüften Kinderwunschzentren in ganz Europa zusammen. Wenn wir nach einem Assessment einer neuen Klinik, einer erfolgreichen Pilotphase und positivem Patien*innenfeedback einen neuen Partner in unser Netzwerk aufnehmen, bezahlt dieser uns eine monatliche Administrationsgebühr für unsere Arbeit.

Wie ist überhaupt die Idee zu Fertilly entstanden?
Mich hat der Bereich Healthtech bereits während meiner Zeit als Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group intensiv fasziniert. Das Potential zur Digitalisierung des Gesundheitswesen ist riesig, es gibt viele “low hanging fruits”, die einen großen Mehrwert für die Gesellschaft bieten können. Mir war es wichtig ein Unternehmen zu gründen, hinter dem ich bedingungslos stehe. Ausgelöst wurde die Gründung von Fertilly dann durch eine Geschichte aus meinem familiären Umfeld, die mir erst vor Augen geführt hat, wie viel im Bereich “unerfüllter Kinderwunsch” passieren muss. Dabei ist die digitale Lösung von heutigen Problemen mit der Kinderwunschreise nur ein Aspekt von Fertilly. Ebenso geht es uns um eine De-Stigmatisierung des Themas Unfruchtbarkeit. Ich würde mir wünschen, dass Betroffene, sowie die Gesellschaft in Zukunft offener mit den Themen Familienplanung und Unfruchtbarkeit umgehen können – unabhängig vom Geschlecht oder der sexuellen Orientierung. 

Wie hat sich Fertilly seit der Gründung entwickelt?
Wir waren die ersten zwei Jahre ein reines Bootstrapping-Startup und haben uns vor der ersten Wachstumsphase intensiv mit dem Markt auseinandergesetzt, mit vielen Betroffenenen über ihre genauen Bedürfnisse gesprochen und auf dieser Grundlage das Produkt entwickelt. Im Jahr 2021 haben wir unsere Seed-Runde abgeschlossen und haben mittlerweile nochmals deutlich zugelegt. Dabei sind wir im Vergleich zum letzten Jahr von 5 auf 20 Mitarbeiter:innen gewachsen. Vielleicht die wichtigste Kennzahl: Mit der Unterstützung von Fertilly wurden bereits über 1.000 Babys geboren. 

Blicke bitte einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Fehler haben wir definitiv viele gemacht, auch wenn glücklicherweise nichts davon fatale Auswirkungen hatte. Ein Versäumnis von mir war sicherlich, dass ich in der Vergangenheit zu wenig Zeit ins Recruiting investiert habe. Recruiting ist eine der zeitaufwendigsten Aufgaben für Gründer:innen, und gleichzeitig zu wichtig, als dass man wesentliche Schritte einfach “wegdelegieren” kann. Das Zusammenstellen eines starken und motivierten Teams ist eine der wichtigsten Fähigkeiten von Gründer*innen. Die ersten 15 bis 20 Mitarbeiter:innen stellen entscheidende Weichen für das Business und prägen die Unternehmenskultur. Weiter haben wir uns im Recruitingprozess immer wieder von makellosen CVs blenden lassen anstatt den Fokus auf echtes Können und Potential zu legen. Teilweise hatten wir absolute Rohdiamanten in der Firma, aber haben diese nicht an Bord gehalten, weil sie zum Beispiel zu dem Zeitpunkt “nur” Praktikant*innen waren, und wir zu wenig Zeit in sie investiert haben. 

Und wo hat Ihr bisher alles richtig gemacht?
Ich denke, dass wir neben unserem digitalen Produkt nie die menschliche Komponente vernachlässigt haben. Wir sind sehr nah dran an unseren Patient*innen; kennen ihre Sorgen, Wünsche, Ängste – in allen Stadien der Kinderwunschreise. Wird sind in dieser Hinsicht quasi ein “Healthtech with a human face”.

Welchen generellen Tipp gibst Du anderen Gründer:innen mit auf den Weg?
Gründer:innen sollten ausreichend Zeit ins Recruiting investieren, gerade zu Beginn. Denn das stellt die Weichen für alles, was danach kommt. Die ersten 15 bis 20 Mitarbeiter:innen werden eure Firmenkultur entscheidend prägen. Zusätzlich können gute Mentor:innen sehr viel helfen, wenn sie eure Sicht auf die Dinge regelmäßig hinterfragen, und euch eure eigenen blinden Flecken aufzeigen.

Wo steht Fertilly in einem Jahr?
Unser Ziel ist es, mit Fertilly die größte digitale Fruchtbarkeitsklinik in Europa aufzubauen, bei der die Patient:innen während des gesamten Prozesses unterstützt werden. Unser digitales Portal wird erweitert und in neuen Märkten verfügbar sein. Für die Zukunft planen wir eine elektronische Patientenakte rund um deren Fruchtbarkeit, so dass alle relevanten Infos und Diagnosen auf einen Blick zu finden sind. 

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Foto (oben): Fertilly

 

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.