#Interview

“Es ist wichtig, frühzeitig an die Kommerzialisierung zu denken”

Die Wurzeln von Nia Health liegen am Universitätsklinikum Charité. "Insgesamt war der Weg zur Ausgründung eine Kombination aus Zusammenarbeit mit Patient:innen und Fachkräften, Produktentwicklung sowie Partnerschaftsgesprächen", sagt Gründer Tobias Seidl.
“Es ist wichtig, frühzeitig an die Kommerzialisierung zu denken”
Dienstag, 31. Oktober 2023VonAlexander Hüsing

Das Berliner Startup Nia Health, 2019 von Oliver Welter und Tobias Seidl als Spin-off des Berliner Universitätsklinikums Charité gegründet, entwickelt ein “klinisches Diagnose- und Therapiesystem zur kontinuierlichen digitalen Unterstützung von Patient:innen mit chronischen Hauterkrankungen”. Zum Unternehmen gehören die Apps Nia, Sorea und milderma. Der High-Tech Gründerfonds (HTGF), adesso ventures, Ventura BioMed Investors und weitere nicht genannte Investoren investierten zuletzt 3,5 Millionen Euro in das Unternehmen.

Im Interview mit deutsche-startups.de spricht Nia Health Gründer Seidl über Therapiemöglichkeiten, Rückmeldungen und Kommerzialisierung.

Wie würdest Du Deiner Großmutter Nia Health erklären?
Nia Health ist eine Software-Plattform, die Apps beziehungsweise persönliche digitale Begleiter für Patient:innen mit chronisch-entzündlichen Hautleiden entwickelt. Im Bereich der Dermatologie und Allergologie deckt Nia Health eine Vielzahl von Anwendungen ab: Die App Nia hilft  Menschen mit Neurodermitis – oder Eltern von Kindern mit Neurodermitis -, ihren Gesundheitszustand zu überwachen, zu dokumentieren und ihr Wohlbefinden durch digitale Unterstützung zu verbessern. Das geht auch gemeinsam mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin, die bei Bedarf eine Auswertung der eingegebenen Daten erhalten. So können sie im Patient:innengespräch schneller und gezielter auf Schübe reagieren. Die App Sorea bietet digitale Unterstützung für  Menschen mit Schuppenflechte (bzw. Angehörige von Menschen mit Schuppenflechte) und verhilft ihnen so  zu einem guten Überblick über ihren Gesundheitszustand und zu mehr Wohlbefinden. Aus den Insights der Patient:innendaten können Pharmaunternehmen gezielte, individualisierte Therapien für die chronisch entzündliche Hauterkrankung des Patienten oder der Patientin entwickeln.

War dies von Anfang an euer Konzept?
Unser Anspruch war es seit der Gründung, für Menschen mit chronisch-entzündlichen Hauterkrankungen bessere Therapiemöglichkeiten zu entwickeln. Dieser Linie sind wir treu geblieben. Oliver Welter und Dr. Reem Alneebari aus dem Gründerteam haben in ihrem Freundes- und Familienkreis selbst Erkrankte an Neurodermitis, die bislang nur lokale Therapien wie Kortisoncremes bei starken Schüben erhielten – die aber  nur sehr beschränkt wirken. Die Dokumentation wie Bebilderung der Hautveränderungen oder ein Ernährungstagebuch hat zu unfassbar viel Zettelwirtschaft geführt, viel Zeit in Anspruch genommen und war praktisch nicht in großem Stil auszuwerten. Wir haben hier einen großen Bedarf gesehen, nicht nur die Dokumentation zu digitalisieren und zu vereinfachen, sondern auch das Potenzial und den Wunsch nach gezielten, individualisierten Therapien oder systemischen Therapien ohne Nebenwirkungen. So können wir die Lebensqualität der Menschen verbessern.

Wie genau funktioniert denn euer Geschäftsmodell?
Mit den Apps von Nia Health können Patient:innen Gesundheitsdaten erfassen, die wichtig für ihre jeweilige Erkrankung sind. Dazu zählen etwa tägliche Bilder der betroffenen Hautstelle, Ernährung und Schmerzempfinden sowie bereits angewandte Therapien und Außeneinwirkungen sowie weitere relevante Faktoren. Die Analyse zeigt, wie schnell Schübe kommen können, welche Auslöser es gibt und wie weit die Krankheit voranschreitet. Diese Daten aus dem Therapiealltag werden sorgfältig pseudonymisiert, um die Privatsphäre der Patient:innen und Patienten zu schützen. Die Insights daraus werden kooperierenden Pharmaunternehmen zur Verfügung gestellt, damit sie daraus gezielte personalisierte Therapien entwickeln können, um anderen Betroffenen zu helfen.  

Nia Health ist ein Spin-off des Berliner Universitätsklinikums Charité. Wie war der Weg bis zur Ausgründung?
Der Weg zur Ausgründung von Nia Health als Spin-off der Berliner Universitätsklinik Charité war für uns ein spannender Prozess. Zunächst haben wir unsere Idee gemeinsam mit Patient:innen und Ärzten evaluiert. Durch ihre wertvollen Einblicke und Rückmeldungen konnten wir sicherstellen, dass unser Produkt den Bedürfnissen und Anforderungen sowohl der Patient:innen als auch der medizinischen Fachkräfte gerecht wird. Basierend auf diesem Feedback haben wir schrittweise das Produkt entwickelt und einen Prototyp der App erstellt. Wir arbeiteten eng mit einer Testnutzergruppe zusammen, um das Produkt kontinuierlich zu verbessern und sicherzustellen, dass es den Anforderungen und Erwartungen entspricht. Parallel dazu haben wir erste Gespräche mit Krankenkassen geführt, um deren Interesse an unserer Lösung zu wecken und mögliche Partnerschaften auszuloten. Diese Gespräche haben uns geholfen, die Bedürfnisse der Krankenkassen besser zu verstehen. Insgesamt war der Weg zur Ausgründung von Nia Health eine Kombination aus intensiver Zusammenarbeit mit Patient:innen und medizinischen Fachkräften, Produktentwicklung sowie Partnerschaftsgesprächen mit Krankenkassen. 

Es herrscht derzeit Krisenstimmung in der deutschen Startup-Szene. Was ist Deine Sicht auf die aktuelle Eiszeit?
Natürlich ist die Kapitalbeschaffung derzeit deutlich schwieriger. Investoren legen derzeit noch mehr Wert auf einen klaren Weg in Richtung Profitabilität. Vielleicht ist diese Entwicklung aber auch sehr gesund für das Gründerökosystem. Wir als Early Stage-Startup sind davon zum Glück nicht so stark betroffen wie die Later Stage-Ventures.

Zuletzt konntet ihr bereits 3,5 Millionen einsammeln. Wie seid ihr mit euren Investor:innen in Kontakt gekommen?
Ein wichtiger Kontakt war beispielsweise unser Lead-Investor, der High-Tech Gründerfonds (HTGF). Der erste Kontakt kam bereits kurz nach der Gründung über Profund, den Inkubator der Charité in Kooperation mit der FU Berlin, zustande. Seitdem standen wir in regelmäßigem Austausch mit dem HTGF. Durch diese langjährige Beziehung ist im Laufe der Zeit eine Vertrauensbasis entstanden.

Blicke bitte einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke, muss ich feststellen: Es ist auch manches schief gelaufen. Fehler gehören zum Unternehmertum und wir haben auch daraus gelernt. Auch wir haben Mitarbeiter angestellt, die falsche Erwartungen an das Unternehmen hatten oder unsere Erwartungen nicht erfüllen konnten. Entscheidend ist dann, dass man sich diese Fehler eingesteht, rasch korrigiert und Muster fürs nächste Hiring ableitet. Gebremst hat uns sicherlich auch, dass sich Verhandlungen mit Partnern und Investoren aufgrund externer Faktoren – Corona, Ukraine-Krieg – verzögert haben. Die Unsicherheit und die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Ereignisse haben dazu geführt, dass einige potenzielle Partner und Investoren vorsichtiger geworden sind und ihre Entscheidungen vertagt haben.

Und wo habt Ihr bisher alles richtig gemacht?
Insgesamt können wir sagen, dass der frühe Markteintritt für unsere Unternehmensgründung die richtige Entscheidung war. Wir haben nicht endlos entwickelt, sondern das Produkt so schlank wie möglich gehalten. Bereits sieben Monate nach der Gründung konnten wir den ersten Kooperationsvertrag mit einer der größten Krankenkassen des Landes abschließen und die ersten Versicherten abrechnen. Das ist eine bemerkenswert schnelle Entwicklung im deutschen Gesundheitswesen. Wir haben wertvolle Erfahrungen gesammelt, unseren Kundenstamm erweitert und unseren Wettbewerbsvorsprung ausgebaut. Indem wir von Anfang an auf die Bedürfnisse und das Feedback unserer Nutzer:innen gehört haben, konnten wir uns erfolgreich weiterentwickeln und unsere Marktposition festigen. 

Welchen generellen Tipp gibst Du anderen Gründer:innen mit auf den Weg?
Patient:innen sollten immer an erster Stelle stehen, unabhängig von der Art des Unternehmens oder der Innovation. Identifiziert Herausforderungen und Probleme im Gesundheitswesen und arbeitet an Lösungen, die eine patientenorientierte Versorgung und einen echten Unterschied im Leben der Betroffenen ermöglichen. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, frühzeitig an die Kommerzialisierung zu denken, insbesondere bei Gründungen im Bereich Digital Health. Nur  ein nachhaltiges Geschäftsmodell gewährleistet langfristigen Erfolg und Wachstum. 

Wo steht Nia Health in einem Jahr?
Ein Jahr ist im Gesundheitswesen nicht lang. Wir arbeiten daran, uns im Bereich Real World Evidence weiterzuentwickeln und hier weitere positive Trends und Resultate zu erzielen bzw. die Genauigkeit unserer Algorithmen weiter zu verbessern.

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Foto (oben): Nia Health

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.