#Gastbeitrag

InsurTech-Startups brauchen Versicherung nicht neu erfinden

"Was ist mit der Insurtech-Revolution passiert?" fragte Anfang dieses Jahres das Wirtschaftsmagazin Globes. Unternehmen wie Lemonade hätten die Wall Street mit dem Versprechen gestürmt, die Versicherungswelt neu zu erfinden. Ihre Kurse würden nun jedoch eher eine enttäuschende Geschichte schreiben.
InsurTech-Startups brauchen Versicherung nicht neu erfinden
Donnerstag, 21. Juli 2022VonTeam

Erfolgreiche Insurtechs schalten etablierte Strukturen wie Vermittler nicht aus, sie “enablen” sie. Gerade im Lebensversicherungsbereich ist die persönliche Beratungskomponente nicht wegzudenken. Beratung findet aber natürlich digitaler und smarter statt. Letztendlich können Insurtechs gemeinsam mit allen Beteiligten ihre Stärken bei der Bewältigung komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen ausspielen. 

“Was ist mit der Insurtech-Revolution passiert?” fragte Anfang dieses Jahres das israelische Wirtschaftsmagazin Globes. Hightech-Unternehmen wie das in Israel beheimatete Lemonade hätten die Wall Street mit dem Versprechen gestürmt, die Versicherungswelt neu zu erfinden. Ihre sinkenden Kurse würden nun jedoch eher eine enttäuschende Geschichte schreiben.

Wie immer sind solche Verallgemeinerungen mit Vorsicht zu genießen. Bisher lag der internationale Medienfokus überproportional auf B2C-Insurtechs wie Lemonade oder Metromile – sicherlich getrieben durch die entsprechenden Börsengänge in 2021. Einen “All-Digital-Neo-Insurer” für beratungsintensive Produkte zu bauen ist allerdings ein dickes Brett, für das der passende Bohrer oftmals noch gefunden werden muss. Mit anderen Worten: Insurtechs, die sich auf die letzte Meile zum Endkunden konzentrieren, lassen sich nicht ohne weiteres mit B2B- oder B2B2C-Insurtechs vergleichen. Genau deshalb halte ich es für falsch, von generellen Problemen der Insurtech-Branche zu sprechen. Dem Ruf nach einer Revolution sollte die Analyse vorausgehen, was an der Versicherungsbranche gut ist und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Was Gründerinnen und Gründer – unabhängig von der Branche – bedenken sollten: Fortschritt heißt nicht automatisch Disruption. Vielmehr gilt es, sinnstiftend so zu digitalisieren, dass alle Beteiligten spürbaren Mehrwert für sich gewinnen. Und im Versicherungskontext sind das eben die Versicherer selbst, Endkundinnen und -kunden genauso wie Vermittlerinnen und Vermittler.

Gleichzeitig zeigt ein Blick auf das gesellschaftlich so wichtige Thema der Altersvorsorge, dass Technologie einen wichtigen Beitrag leisten kann, um komplexe Sachverhalte verständlich und lösbar zu machen.

Unsere globale Rentenlücke ist heute bereits enorm und wächst jeden Tag weltweit um 28 Milliarden Dollar. Bis 2050 häuft sich das Defizit auf 400 Billionen Dollar an. Der Handlungsbedarf ist dringlich und Lösungsansätze aus verschiedenen Blick- und Denkrichtungen sind mehr als willkommen. Das Potenzial für innovative Startups und Gründerteams – beispielsweise mit Software-as-a-Service-Lösungen – einen Beitrag zu leisten, um die Rentenlücke zu schließen, ist immens. 

Entscheidend ist aus unserer Sicht dabei jedoch, dass die klassische Wertschöpfungskette „Versicherung-Vermittler-Versicherungsnehmer“ Ausgangspunkt neuer Lösungsansätze bleibt. Aus unserer Warte macht es keinen Sinn, zu versuchen, hier irgendetwas zu unterbrechen oder gar abzuschneiden. Vielmehr gilt es, diese Wertschöpfungskette als Ganzes digital zu „enablen“. Die entscheidenden Bindeglieder sind die Vermittlerinnen und Vermittler. Werden sie in die Lage versetzt, mit Hilfe digitaler Lösungen Kundinnen und Kunden anzusprechen, steigert das die Effizienz. Mehr Abschlüsse sind mit weniger Aufwand zu erreichen, weil die Kunden – im Fall der betrieblichen Vorsorge sind das Arbeitgeber und Arbeitnehmer – besser informiert sind und sich dadurch besser beraten fühlen. Das gelingt vor allem durch die gezielte Aufbereitung von Daten und Informationen, was wiederum Transparenz und Vertrauen schafft. 

Diese Klarstellung ist notwendig, wenn es darum geht, beurteilen zu können, welche Geschäftsmodelle von Insurtechs – insbesondere bei beratungsintensiven Produkten – jetzt und in Zukunft erfolgversprechend sind. Unsere These: Komplexe Produkte brauchen einen Vermittler oder eine Vermittlerin. In der Altersvorsorge reden wir beispielsweise über Verträge, die Laufzeiten von 30 und mehr Jahren haben, nicht vergleichbar mit Privathaftpflicht- oder Kfz-Versicherungen, bei denen die Wechselbereitschaft höher ist. 

Die Erfolgsformel für Insurtechs 2.0 lautet daher aus unserer Sicht “Never change a winning team”– oder besser noch “Make a winning team even better”. Das hat immense Vorteile – beispielsweise mit Blick auf die Customer Acquisition Costs. Wer sich nicht zwischen Versicherer und Endkunden drängt, muss sich über diese Kosten weniger Gedanken machen. Wer schon einmal versucht hat, qualifizierte Leads zu erwerben, aus denen sich, unabhängig von der Branche, Geschäft ableiten lässt, weiß, wie hoch diese Kosten sein können. 

Die berühmte “Musik”, die Magazine wie Globes in der Insurtech-Welt zu vermissen scheinen, steckt für uns in der Befähigung der einzelnen Akteure im B2B2C-Geschäft. Und Technologie ist der Schlüssel. Vor allem die Plattformökonomie bietet hier Chancen, da es ihr Grundprinzip ist, alle relevanten Spieler eines Marktes extrem tief technologisch miteinander zu verbinden und damit Raum für Innovationen zu schaffen. Was die Insurtech-Welt – und alle, die sich überlegen, Teil davon zu werden – nicht vergessen darf: Die Vermittlerinnen und Vermittler haben bereits ein umfassendes Experten-Know-how und liefern sehr gute, nachgefragte Beratung. Unterstützung brauchen sie auf anderer Ebene, nämlich beim Eintritt in die digitale Welt mit Lösungen, die komplexe Produkte auch für jüngere Generationen verständlich, vergleichbar und damit attraktiv machen. 

Über den Autor
Tobias Wann ist CEO der Xempus AG.

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