Startup Challenges

Product Thinking mit dem Product Field – so geht es!

Produktentwicklung ist komplex, ob in Startups oder etablierten Unternehmen. Auch wenn Design Thinking, Lean Startup & Co. Anderes suggerieren: Echtes Product Thinking braucht mehr als eine Handvoll Best Practices und Metriken. Einen Rahmen dafür bietet das Product Field.
Product Thinking mit dem Product Field – so geht es!
Dienstag, 2. Februar 2016VonElke Fleing

Gastbeitrag von den Entwicklern des Product Fields: Product Thinking heißt, nicht nur die ‘Vorderseite’ einer Produktentwicklung zu bedenken (Features, Design, Pitch), sondern auch die ‘Rückseite’: strategische Ziele, benötigte Ressourcen, Kontext der Realisierung und der künftigen Nutzung. All diese Aspekte systematisch zu behandeln und eine von allen Beteiligten geteilte Perspektive auf sie zu schaffen, dabei hilft das Product Field – ein Tool, um mit Komplexität produktiv umzugehen statt sie zu verstecken.

Das Product Field eignet sich gleichermaßen für neue Produkte und Startups wie für bestehende Produkte und etablierte Unternehmen. Gleichzeitig ist es ein Werkzeug für Startup-Acceleratoren, um ihre Arbeit mit Startups auf die Bedürfnisse der Startups einzustellen.

Mehr als ein Canvas

Die naheliegendste Frage vorweg: Ist das Product Field ‘just another canvas’?

Einerseits ja: Es ist ein visuelles Tool zum kollaborativen Verstehen und Erarbeiten eines komplexen Gegenstands. (Gute Canvases kann man ohnehin nicht genug haben, genau wie gute Bücher.)

Andererseits nein: Auf dem Canvas setzt eine Reihe von Methoden auf, die euch systematisch bei der Überprüfung, Bewertung und Weiterentwicklung eurer Ideen und Fähigkeiten unterstützen.

Das Product Field hilft euch und eurem Team,

  • ein geteiltes Verständnis für Product Thinking zu schaffen,
  • den Kontext eurer Produktentwicklung zu überblicken und sie darin auf Kurs zu halten,
  • eure Value Proposition zu finden, zu klären und zu verbessern,
  • Euch zu fokussieren, ehrlich zu bleiben und blinde Flecken zu vermeiden.

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Die Arbeit mit dem Product Field gliedert sich in vier Schritte: Frame, Map, Check und Find.

Frame: Ihr strukturiert euer Product Thinking und schafft geteiltes Verständnis, indem ihr einen visuellen Rahmen und ein einheitliches Vokabular etabliert.

Map: Ihr macht alle Ideen und Kenntnisse über euer Produkt explizit und entwerft damit ein umfassendes big picture als gemeinsame Arbeitsgrundlage.

Check: Ihr validiert die Konsistenz und Kohärenz eures Product Thinking, behebt Fehler noch vor der Umsetzung und findet euren Core/Context Fit.

Find: Ihr identifiziert die Stärken und Schwächen eures Product Thinking und legt Muster frei, die euch dabei helfen, euch auf die wichtigen Herausforderungen zu konzentrieren.

Die ersten beiden Schritte stellen wir euch in diesem Artikel vor.

Ein Beispiel: Das Safety Bike

Um die Arbeit mit dem Product Field zu veranschaulichen, erklären wir seine einzelnen Bestandteile am liebsten anhand einer Produktinnovation, die ihr alle kennt: anhand des Safety Bike – auch bekannt als das moderne Fahrrad.

Das Safety Bike war der erste Fahrradtyp mit Kettenantrieb und gleich großen Rädern – also der Typ Fahrrad, den wir noch heute fahren, 130 Jahre nach seiner Erfindung.

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Entstanden ist das Safety Bike in den 1880er Jahren in England, maßgeblich vorangetrieben durch einen ehrgeizigen Ingenieur und Unternehmer namens John Starley Kemp. Was Kemp für seine Innovation zur Verfügung stand, warum und für wen er sie konzipierte, was die zentrale Neuerung gegenüber dem damals üblichen Hochrad war – all das werden wir im Folgenden mit Hilfe des Product Field systematisch beleuchten.

Am Ende dieses Artikels solltet ihr also nicht nur verstanden haben, wie ihr das Product Field nutzt – sondern auch alles Wichtige über die Entwicklung des Safety Bike wissen.

Frame: Visuelle Struktur, geteiltes Vokabular

Sicher kennt ihr das: Es ist es keine einfache Aufgabe, in einer Produktentwicklung die unterschiedlichen Perspektiven und Einschätzungen von Teammitgliedern, Stakeholdern und Partnern produktiv zu verbinden. Der eine denkt an Benutzer und Bedürfnisse, der andere an Technologie und Umsetzbarkeit, ein dritter an Reichweite und Wachstum. Schnell reden alle aneinander vorbei und können sich nicht auf Prioritäten einigen.

Ein gemeinsamer Bezugsrahmen, ein gemeinsames Vokabular für und ein geteiltes Verständnis von eurer Arbeit am Produkt helfen euch dabei, das zu vermeiden und euer Projekt sinnvoll zu diskutieren, zu bewerten und zu verbessern.

Das Product Field stellt euch einen solchen Rahmen zur Verfügung, indem es Product Thinking visuell analysiert und in einem Canvas repräsentiert.

Center
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Im Zentrum von allem steht natürlich euer Produkt (bzw. sein Name).

Im Falle des Safety Bike steht dort also – richtig, ‘Safety Bike’.

Core
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Der Kern eures Produkts ist seine Value Proposition – wie es bestimmte Probleme besser löst als die Konkurrenz.

Für das Safety Bike heißt das: Hier wird beschrieben, was es Radfahrern bietet – und was es dem damals üblichen Hochrad voraus hat.

Context
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Ihr entwickelt euer Produkt nicht im luftleeren Raum, sondern in einem bestimmten Kontext: Ihr braucht bestimmte Inputs für die Entwicklung des Produkts, und ihr wollt bestimmte Nutzer und Märkte erreichen; ihr verfolgt eine bestimmte Produktvision, und ihr braucht die Mittel, diese umzusetzen.

Zum Safety Bike halten wir hier alles zu Mr. Kemp, seinen Zielen, den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln fest – und dazu, für wen er das neuartige Fahrrad erfunden hat und wie er es an den Mann bzw. die Frau bringen wollte.

Character
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Zu guter Letzt hat jede Produktinnovation einen bestimmten Charakter: Sie ist in unterschiedlichem Ausmaß geprägt von der Idee, die sie verkörpert, dem Wert, den sie schafft, dem Markt, den sie bedient, und den Ressourcen, die sie nutzt.

Den Charakter konzis zu erfassen, hilft euch in wichtigen Priorisierungsfragen. (Wie ihr dazu vorgeht, das erläutern wir euch anhand des Safety Bike im nächsten Teil der Artikelserie.)

Map: Daten sammeln, Ideen generieren

Sprecht ihr erst einmal die gleiche Sprache, ist die beste Grundlage für eine gute Zusammenarbeit von Team, Stakeholdern und Partnern ein geteilter Blick auf alles, was eure Produktentwicklung faktisch beeinflusst.

Um den zu erzeugen, sammelt ihr Daten und/oder Ideen zu eurem Produkt, indem ihr gemeinsam das Product Field ausfüllt.

Das könnt ihr prinzipiell in drei Situationen tun:

Euer Context ist fix, z. B. in einem etablierten Unternehmen mit existierenden Ressourcen und Märkten, und ihr sucht Produktideen, die ihr in diesem Kontext entwickeln könnt. Dann startet ihr am besten mit dem Context und brainstormt den Core.

Euer Core ist fix, d. h. ihr habt bereits eine Value Proposition, und ihr wollte den passenden Realisierungskontext definieren – z. B. benötigte Ressourcen oder passende Märkte. Dann startet ihr am besten mit dem Core und brainstormt den Context.

Product Core und Context sind (mehr oder minder) fix, und ihr sucht nach Schwächen oder Lücken, z. B. in einem Middle Stage Startup oder in einem laufenden Unternehmensprojekt. Dann könnt ihr irgendwo starten und nach und nach die Verbesserungspotenziale erarbeiten.

Folgende Fragen beantwortet ihr beim Ausfüllen:
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Problem
Welches Problem haben eure Nutzer?

Das Safety Bike adressierte zwei zentrale Fortbewegungsprobleme: Ohne ein Fahrrad war die persönliche Mobilität damals höchst eingeschränkt – und die existierenden Hochräder zu fahren war unbequem und gefährlich.

Solution
Wie löst euer Produkt das Problem der Nutzer? Aus welchen Komponenten besteht die Lösung?

Das Safety Bike schaffte als persönliches Fortbewegungsmittel Abhilfe – und bot mit Kettenantrieb und den resultierenden gleich großen Rädern einen niedrigen Schwerpunkt und Sitz.

Uniqueness
Was macht das Produkt besonders oder einzigartig, verglichen mit dem Wettbewerb?

Der niedrige Schwerpunkt und Sitz machten das Safety Bike sicherer und bequemer als die konkurrierenden Räder – und erschwinglich war es obendrein.

Competition
Was sind die Wettbewerber und Alternativen zu eurem Produkt?

Wir nannten sie schon: Die Hochräder waren die damals etablierte Konkurrenz im noch junden Fahrradmarkt – und außerhalb dieses Marktes all die teureren und umständlicheren Alternativen wie Pferde, Kutschen und Bahnen.

Motivations
Wonach streben eure Nutzer, was wollen sie mit dem Produkt erreichen?

Im Falle des Fahrrads ebenso einfach wie bedeutend: Seine Fahrer wollten einfach, sicher und schnell von A nach B kommen – und das möglichst wann und wo immer sie wollten.

Users
Welche Menschen werden euer Produkt nutzen bzw. verwenden?

Das moderne Fahrrad war primär interessant für den arbeitenden Mittelstand, der sich damit endlich schnell und autonom fortbewegen konnte.

Customers
Wer zahlt für die Nutzung eures Produkts zahlen? Die Nutzer selbst oder jemand anders?

Käufer der Safety Bikes waren neben den Fahrern selbst auch kleinere Betriebe, die mit den Fahrrädern schneller ihre Kunden und Lieferanten erreichen konnten.

Distribution
Wie gelangt euer Produkt zum Kunden? Wie schafft ihr Aufmerksamkeit dafür?

Distribution war ein echtes Problem für Kemp & Co.: Mangels eines existierenden Händlernetzes wurden die ersten Räder über Eisenwarenläden verkauft – und um das Produkt bekannt zu machen, hatte mein keine reichweitenstarke Werbung zur Verfügung, sondern musste sich mit Fahrradrennen und Radclubs Sichtbarkeit verschaffen.

Production
Was braucht es, um euer Produkt herzustellen und zu unterhalten?

Kemp konnte für das Safety Bike auf die Segnungen der Zweiten Industriellen Revolution zurückgreifen: auf Stahl, mechanische Pressen und Fabriken zur Massenfertigung.

Enablers
Welche Ressourcen ermöglichen die Produktentwicklung zuallererst?

Der zentraler Enabler für das Safety Bike war der Kettenantrieb: Durch ihn konnten Lenk- und Antriebsrad getrennt, eine variable Übersetzung eingeführt und damit beide Räder gleich groß gemacht werden. Ursprünglich für den Einsatz in Fabriken erfunden, erkannte Kemp das Potenzial des Kettenantriebs für moderne Fortbewegungsmittel – und machte ihn zum Kern seiner Innovation.

Drivers
Wer sind die zentralen Akteure, die das Produkt vorantreiben? Was zeichnet sie aus, was qualifiziert sie für diese Rolle?

Oft genug haben wir ihn jetzt schon erwähnt: John Starley Kemp war die zentrale Figur hinter dem Safety Bike; er hatte die Idee mit dem Kettenantrieb, und er brachte das Produkt zur Serienreife und in den Markt. Dabei halfen ihm sein Ingenieurstalent und sein Unternehmergeist.

Goals
Was sind eure unternehmerischen und strategischen Ziele? Warum wollt ihr das Produkt auf den Markt zu bringen?

Hier schließt sich der Kreis: Wollten sich die Nutzer seines Fahrrads endlich sicher und autonom fortbewegen, so hatte Kemp das dazu passende ehrgeizige Ziel, persönliche Mobilität zu verbessern und sicherere, erschwinglichere Fahrräder in die Welt zu bringen. (Seinen Ehrgeiz mag angespornt haben, dass sein Onkel einer der Erfinder des Hochrads war.)

Praktische Tipps

Damit solltet ihr nun alles Wichtige darüber wissen, wie und warum das Product Field als Canvas für euer Product Thinking funktioniert. Nun geht es ans Ausprobieren! Dazu ein paar Tipps:

Wenn ihr das Product Field selbst zeichnet (wärmstens empfohlen!), dann startet von innen nach außen; erst die Linien, dann die Beschriftung (werden im nächsten Abschnitt erklärt). Ihr könnt das Product Field zur Orientierung auf eine Metaplan-Wand projizieren und es darauf ‘abmalen’ – oder nach einige Malen auch freihand zeichnen.

So oder so,
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  • nutzt die volle Breite einer Metaplan-Wand, damit ihr im nächsten Schritt viele Stickies unterbringt;
  • achtet auf die Proportionen des Feldes, damit kein Aspekt zu groß wird;
  • schreibt in unterschiedlichen Schriftstilen, um zwischen Core, Context und Character zu differenzieren;
  • verwendet gute Marker.

Für das Füllen des Product Field bieten sich Sticky Notes an. So könnt ihr erst so viele Daten wie möglich sammeln (diverge), um sie im zweiten Schritt auf die wichtigsten zu reduzieren (converge). Für uns hat es sich bewährt, die Ideen und Einsichten auf ca. drei Stickies pro Aspekt zu kondensieren, ggf. auch in mehreren Runden.

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Wenn ihr beim Ausfüllen Lücken oder Unsicherheiten entdeckt, ist das der richtige Zeitpunkt, um mit Methoden z. B. aus dem Design Thinking oder Customer Development an ihnen zu arbeiten.

So geht’s weiter:

Wie ihr mit dem Product Field validiert, ob euer Produktdenken konsistent ist und ob ihr Core/Context Fit habt, das erfahrt ihr in der nächsten Folge.

Zu den Personen:
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Entwickelt haben das Product Field Wolfgang Wopperer Beholz, Co-Founder mindmatters und betahaus Hamburg, Klaus-Peter Frahm, Leiter Business Development news aktuell und Michael Schieben, Geschäftsführer precious design studio .

Die drei haben mit dem Product Field erfolgreich in so unterschiedlichen Kontexten wie dem dpa next lab, dem Hamburger next media lab und der comdirect Startup Garage gearbeitet. Das Tool ist also gründlich praxiserprobt und hilft Startups, Acceleratoren und etablierten Unternehmen dabei, ihr Product Thinking zu schärfen.

Bisher erschienen in der Serie Startup Challenges:

Ohne die richtige Motivation ist alles nichts

Kreativität: So kommt man auf richtig gute Ideen

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Bilder alle © Product Field

Elke Fleing

Elke Fleing aus Hamburg liefert Texte aller Art, redaktionellen Content und Kommunikations-Konzepte. Sie gibt Seminare, hält Vorträge und coacht Unternehmen. Bei deutsche-startups.de widmet sie sich vor allem Themen und Tools, die der Erfolgs-Maximierung von Unternehmen dienen.