Gastbeitrag von Gottfried Gideon (musikmarkt)

Musikalische Blütezeit!? Erfolgsversprechende Start-ups!

September ist bei beim Printmedium 'musikmarkt' traditionell Start-up-Zeit. 2014 widmete die renommierte Musikbusiness-Zeitschrift Start-ups im Musikbusiness wieder einen langen Artikel mit Interviews. deutsche-startups.de darf diesen Beitrag exklusiv online veröffentlichen. Dankeschön!
Musikalische Blütezeit!? Erfolgsversprechende Start-ups!
Dienstag, 30. September 2014VonTeam

In der digitalen Ära werden Unternehmen, die ohne Hierarchien arbeiten und fexibel agieren können immer wichtiger. Die Zeitschrift musikmarkt hat einmal mehr einige erfolgsversprechende Start-ups nach ihren Geschäftskonzepten und den aktuellen Herausforderungen befragt.


Um die Genialität von Anita‘s Dropship demonstrieren zu können, reichen Worte kaum aus. Man stelle sich einen massiven Lautsprecher vor, mit zwei Reglern an den Seiten sowie einem großen, roten Buzzer an der Front. Mit den Reglern baut man einen Beat Stück für Stück auf, mit dem roten Buzzer löst man den sogenannten Drop aus. Der Drop ist im Bereich der elektronischen Musik der Übergang aus der Einleitung eines Songs in den Hauptteil.

Dieser Moment wird in entsprechenden Kreisen regelrecht herbeigesehnt, weshalb Produzenten viel Zeit und Raffinesse in die Gestaltung des Drops investieren. Mit Anita’s Dropship entscheidet der Hörer, an welcher Stelle der Drop einsetzt. Davor und danach generiert die Maschine automatisch einen endlosen Song, der sich mit Hilfe der Regler beeinflussen lässt.

Das funktioniert, weil Reactify, ein Tech-Start-up aus London, einen Algorithmus geschaffen hat, der in Kombination mit der Programmiersprache Pure Data ganze Tracks generiert, ohne dass jemals ein Komponist Hand anlegen müsste.

Dasselbe Unternehmen hat zum Release des neuen Golf GTI von VW eine App entwickelt – Play The Road –, die dem Begriff Musikerfahrung eine völlig neue Bedeutung gibt. Über Geschwindigkeit und Lenkbewegungen steuert man damit nicht nur das Auto, sondern auch die Musik.

Mit der Technologie von Reactify ist es auch möglich, ein Album zu kreieren, das sich mit jedem Durchlauf anders anhört, weil es auf eine Vielzahl im Vorfeld eingespielter Soundloops zurückgreift.

Die Philosophie der beiden Reactify-Gründer Yuli Levtov und Ragnar Hrafnkelsson: Musik muss nicht statisch sein und bei jedem Anhören gleich klingen. Wer den beiden Programmierern Details zur Funktionsweise ihrer Algorithmen entlocken möchte, hat im Rahmen der diesjährigen Berlin Music Week übrigens die Gelegenheit dazu.

Reactify ist einer von zehn Finalisten, die sich beim Music Start Up Corner dem Urteil einer Expertenjury stellen werden. Levtov und Hrafnkelsson bilden das Kernteam von Reactify, für die verschiedenen Projekte, die das Start-up für Künstler, Designer oder Marketingagenturen entwickelt, werden je nach Bedarf freie Mitarbeiter eingestellt.

“Etablierte Geschäftsmodelle werden in Frage gestellt”

mm-harald-a-summaEine geringe Zahl an Mitarbeitern ist für die meisten Tech-Start-ups charakteristisch. “Die Technologie wirkt sehr verstärkend. Früher brauchte man fünf, sechs Leute, um ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Das funktioniert heute schon zu zweit. Kein Segment unseres wirtschaftlichen Lebens kann sich dieser Veränderung entziehen”, erklärt Harald A. Summa, Geschäftsführer von eco, des Verbands der deutschen Internetwirtschaft.

Laut Summa befinden wir uns immer noch in der Frühphase der digitalen Revolution. “Die technologischen Möglichkeiten sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. In den nächsten zehn, 15 Jahren wird sich sehr viel verändern. Wir haben jetzt das Zeitalter erreicht, wo Digital Natives, die ein ganz anderes Verständnis vom Internet haben, viele Veränderungen vorantreiben werden.

Wir können davon ausgehen, dass fast jeder Prozess, den wir aus unserem Wirtschaftsleben kennen, digitalisiert wird. Etablierte Geschäftsmodelle werden in Frage gestellt – ob zu Recht oder zu Unrecht sei einmal dahingestellt.”

“Innovationsmotor für die Wirtschaft””

Start-ups sind laut Harald A. Summa “Quelle für Innovationen und Veränderungen”. Sie seien auch beschäftigungspolitisch sehr wichtig, “weil sie Unterschlupf bieten für die jungen Menschen, die von den Universitäten kommen. Sie sind ein Auffangbecken für die Jugend.”

Und sie sind flexibler als etablierte Großunternehmen. “Wir haben das Problem, dass die etablierten Unternehmen – ich nenne sie mal die Großindustrie – zwar immer wieder intern Innovation erzeugt, aber nicht in der Lage ist, diese Innovationen zu vermarkten. Viele dieser Geschäftsideen wären in Start-ups besser aufgehoben und könnten sich dort besser entwickeln. Die Dinosaurier der klassischen Industrie tun sich sehr schwer damit. Und auch wenn sie Technologien vom Markt einkaufen, werden diese meist so integriert, dass sie hinterher nicht mehr vorhanden sind.”

mm-elke-fleingElke Fleing, Unternehmensberaterin, Autorin und Start-up-Expertin, ergänzt: “Bei großen Konzernen sind die Wege sehr lang und die Innovationshemmnisse sehr hoch. Start-ups sind flexibel, haben flache Hierarchien, keine strikt getrennten Abteilungen und sind in der Regel am Puls der Zeit – sowohl was die Technologie als auch das Geschäftsmodell und die Bildung des Teams angeht.

Start-ups sind ein wichtiger Innovationsmotor für die Wirtschaft. Sie lernen außerdem, ‘lean’ zu arbeiten. Das heißt, sie haben den Mut, auch mit Beta-Versionen rauszugehen, um das Produkt unter Einbeziehung der Nutzererfahrungen und -bedürfnisse konstant zu verbessern.”

Aus diesen Gründen setzt etwa Universal Music in Sachen Digitalvertrieb auf ein Startup: Spinnup. Spinnup ist ein Digitalvertrieb für Musik – der laut Country Manager Karl Nowak jedoch etwas weiter geht: “Wir distribuieren alle Künstler, die ihre Musik über uns hochladen, weltweit und nehmen hierbei nur einen geringen Betrag pro Jahr – keinerlei Prozente, keine Rechteabgabe, keine vertraglichen Hintertürchen.”

Die “wahre Besonderheit” jedoch seien die Talent Scouts. “Diese hören alles durch und sind auf der Suche nach talentierten Musikern. Sie helfen den Künstlern bei Fragen, erläutern ihre Meinung und sind eng mit den A & Rs von Universal Music verknüpft. Das bedeutet, dass jeder Musiker, der seine Musik über Spinnup hochlädt, die Möglichkeit auf einen Plattenvertrag hat”, erklärt Nowak. In einer Zeit der Individualisierung von (Konsum-) Produkten und Diensten seien Start-ups die “logische Schlussfolgerung des unternehmerischen Marktes”.

Aufbruchstimmung

Laut Elke Fleing hätten mittlerweile auch die Medien, die klassische Wirtschaft und die Politik begriffen, wie wichtig Start-ups seien. Aus diesem Grund rückten sie immer mehr in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Die Expertin will jedoch nicht von einem Boom sprechen, da Start-ups schon immer wichtig gewesen seien, auch wenn das Internet Neugründungen einen deutlichen Schub verpasst habe: “Die meisten Startups sind ja webbasiert, viele Geschichten funktionieren erst durch das immer schneller werdende Internet. Big Data beispielsweise, also alles, was mit der Auswertung von riesigen Datenmengen zu tun hat, fängt gerade erst an, weil es erst jetzt Serverfarmen gibt, die groß genug sind, um all diese Daten zu verarbeiten”, so Fleing.

Das sieht Harald A. Summa genauso: “In Deutschland gab es schon immer Unternehmensgründungen. Die Zahl der Neugründungen ist in den vergangenen Jahren zwar gestiegen, von einem Boom würde ich dennoch nicht sprechen. Aber in der Tat: Gerade in der IT- und Internet-Branche sind die Menschen in Aufbruchsstimmung und motiviert, sich selbstständig zu machen.”

Start-ups aus dem Musikbiz

Momentan sei auffällig, dass sehr viele Start-ups aus dem Musikbusiness kämen, so Elke Fleing.

mm-florian-simmendingerAuch feelthebeat fällt in diese Kategorie. Feelthebeat ist ein tragbares Metronom für Musiker, Tänzer und DJs, es vibriert anstatt einen Ton zu produzieren. Die Vibration geht laut Mitgründer Florian Simmendinger leichter ins Unterbewusstsein und ist vielseitiger einsetzbar, im Studio, Live auf der Bühne usw.

“Unser Gerät lässt sich via Bluetooth mit einem Smartphone verbinden und über eine eigene App konfigurieren. Viele zusätzliche Features über die Smartphone App sind geplant: zum Feedback und Learning Games. Mit unserem Feature ‘Multi-Sync’ können mehrere Geräte miteinander verbunden werden und gleichzeitig im Takt vibrieren, was für Bands oder Tanzgruppen interessant ist”, so Simmendinger.

Eine Frage des Teams & des Geldes

Ein aktuelles Beispiel aus der Hardware-Szene, das große Veränderungen angestoßen habe, ist laut Simmendinger die Oculus Rift-Brille. Dabei handelt es sich um eine Brille, deren Entwickler anstreben, ein bislang nicht gekanntes Virtual-Reality-Erlebnis zu schaffen. Wenn man sich die Vorstellungsvideos der Entwickler ansieht, wird deutlich, dass eine der größten Herausforderung das Finden des richtigen Teams war. “Das Team ist das A und O. Klar, der Finanzbedarf ist ganz wichtig, aber ohne das richtige Team bringt einem die beste Geschäftsidee nichts”, sagt auch Elke Fleing.

Gerade als Hardware-Startup sei aber besonders die Finanzierung ein Problem, sagt Florian Simmendinger. Dies hänge mit hohen Fixkosten zusammen – bereits der Spritzguss für die Herstellung koste einen fünfstelligen Geldbetrag.

Dieses Problem werde durch Crowdfunding jedoch erheblich erleichtert. Auch Elke Fleing sieht Crowdfunding als eine von vielen Möglichkeiten, um an Geld zu kommen, und Harald A. Summa ergänzt: “Sie können heute auf verschiedene Arten an hohe Beträge gelangen. Ich hätte mir vor 20 Jahren gewünscht, die heutigen Möglichkeiten zu haben. Was dem deutschen Mark in dieser Hinsicht noch fehlt, ist eine amerikanische Mentalität.”

In Amerika sei es möglich, die Finanzierung von Dritten anzunehmen, ohne selber groß ins Risiko zu gehen. In Deutschland werde nach wie vor recht traditionell finanziert. Und wenn man mit Banken und anderen Institutionen spreche, würde man feststellen, dass dort überall ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis vorherrsche, und man am Ende Tages mit Haus und Hof für seine Geschäftsidee bürgen müsse. “Das ist in Amerika nicht so, dort sind die Kapitalgeber schneller bereit, ein Risiko aufzunehmen und auch mal ein paar Millionen zu verbrennen, nach dem Motto: Lasst es uns einfach mal versuchen. Das würde hier in Deutschland kaum jemand wagen”, so Summa.

Nichtsdestotrotz gebe es auch in Deutschland eine sehr breit angelegte und finanziell gut ausgestattete Venture-Capitalist-Szene, wo man in jeder erdenklichen Form Beteiligungen abgeben und Geld einholen könne. Aber die sei bei weitem noch nicht so ausgeprägt wie in Amerika. Summa: “Aus diesem Grund beschäftigt sich auch die Bundesregierung mit Start-ups, um das Thema sowohl von der Venture-Seite als auch der Arbeitsmarkt- und Technologie-Seite zu befeuern. Es gibt ja den Beirat junge digitale Wirtschaft, der beim Wirtschaftsminister aufgehängt ist und in dem ich auch tätig bin. Das zeigt, dass die Bundesregierung eine gewisse Zielsetzung verfolgt.”

Weitere Herausforderungen

Weitere Herausforderungen für Start-ups laut Elke Fleing: “Die Geschäftsidee und das Geschäftsmodell müssen stimmen, du musst das Operative lösen können und dir darüber klar sein, dass ohne Marketing nichts geht.”

Und Harald A. Summa ergänzt: “Für das einzelne Start-up ist es eine der größten Herausforderungen, von Anfang an die Professionalität an den Tag zu legen, die der Markt fordert. Eine Vielzahl von Start-ups versucht nach wie vor blauäugig, mit einem Geschäftsmodell in den Markt zu gehen, das man schon in zehnfacher Ausführung woanders gesehen hat.

Das Geschäftsmodell und die Technologie sind in vielen Fällen noch verbesserungswürdig. Wir wollen mit der Förderung der Start-ups ja auch erreichen, dass wir die technologische Abhängigkeit von anderen Märkten verringern. Das geht in der Regel nur über Innovation und nicht über das Kopieren von Dingen, die man irgendwo schon einmal gesehen hat.”

Musik für alle Lebenslagen

Ein wichtiges Thema für die Musikbranche in der digitalen Ära: Musikempfehlung. Den exakten Geschmack der Nutzer zu treffen, ist eine enorme Herausforderung, da Musikkonsum keine rein technische Angelegenheit ist, die man ausschließlich mit einem Algorithmus abbilden kann. Die meisten Streaming-Dienste setzen auf eine Kombination aus technischem Algorithmus und redaktioneller Komponente.

mm-hugo-bonDas Start-up Soundytics richtet sich an Entwickler, die ein Musik-Empfehlungssystem für ihren Service benötigen. “Die Soundytics-Technologie extrahiert automatisch akustische Merkmale aus Musikstücken: Stimmung, Genre, Subgenre, Tempo, Instrumenten-Kategorien, Stimmpräsenz etc.”, erklärt CEO Hugo Bon. Die Technologie ist das Ergebnis eines Forschungs- und Entwicklungsprogramms in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut. “Wir analysieren Millionen von Songs (aktuell zwölf Millionen) und verstärken unsere Datenbank mit redaktionellen und semantischen Metadaten wie Land, Beliebtheit, Datum, Biographien, Events, Tickets, Videos und mehr.

Unsere Technologie ermöglicht die Entwicklung innovativer Nutzererfahrungen und Musikempfehlungs-Dienste über unsere Programmierschnittstellen: Fortgeschrittene Suche von Musikstücken, akustische Ähnlichkeiten von Musikstücken, automatische Erstellung intelligenter Radiostationen, Themen-Playlists und das Bereitstellen redaktioneller Metadaten”, so Bon, und er fährt fort: “Wir helfen unseren Kunden, den Geschmack ihrer Nutzer besser verstehen zu lernen, indem wir den Hörfluss analysieren, um die Inhalte und Hörgewohnheiten exakt zu beschreiben.”

Laut Bon sei es eine der größten Herausforderung für jeden Service, die Aufmerksamkeit der Nutzer zu behalten. Musik sei das geeignete Medium dafür, da sie allgegenwärtig sei. “Unsere Aufgabe ist es, die richtige Musik zur richtigen Zeit zu offerieren, um den Hörer bei der Stange zu halten.” Bon erklärt weiter, dass 20 Prozent des Musikkatalogs von Spotify noch nie angehört worden seien, “nicht ein einziges Mal”. 70 Prozent der weltweiten Einnahmen würden von einem Prozent der Künstler generiert. “Eine intelligente Musikempfehlung ist der Schlüssel, um neue Musik zu entdecken und somit Vielfalt zu gewährleisten. Das wiederum ist für die Musikdienste wichtig, um mehr Werbung, Abos und Produkte zu verkaufen.”

Der nächste logische Schritt sei es, das auf den digitalen Plattformen erlangte Wissen zu verwenden, um die passende Musik für die unterschiedlichsten Lebensbereiche – Reisen, Shopping, Zuhause – zu finden.

Eins ist klar: Mit fortschreitender Digitalisierung in einer immer schnellebigeren Welt werden flexible Start-ups immer wichtiger. Die Zeit ist reif für Neugründungen aller Art, auf finanzielle Unterstützung sowie professionelle Beratung können aufstrebende Jungunternehmer aktuell jedenfalls zählen.

Fehlt also nur noch ausreichend Motivation, aber die lässt sich leicht aus einem Blick ins Internet ziehen. Denn auch Google, Amazon, Facebook, Soundcloud, Twitter und wie die Giganten alle heißen waren einmal: Start-ups.

Zum Medium und zur Person
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Gideon Gottfried ist Redakteur und Journalist beim Branchenmagazin musikmarkt. Seit über 55 Jahren ist musikmarkt die angesehene und anerkannte Fachzeitschrift für alle, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Musik zu tun haben – sei es mit Tonträgern oder auf der Bühne, in Handel und Vertrieb oder auch als Künstler. musikmarkt, wöchentlich in insgesamt 20 Ländern verbreitet, bietet zuverlässig recherchierte News, Interviews und Features aus der kompletten Musikwirtschaft – vom Tonträger bis zum Live-Konzert. Dazu kommt außer den aktuellen TOP 100 Single & Album der umfassende musikmarkt-Charts-Service mit internationalen Charts und Auswertungen aller Art.

Gideon Gottfried hat 2010 seinen Abschluss in Kommunikationswissenschaft an der Ludwig Maximilians Universität in München gemacht und ist seither beim musikmarkt.

Bild oben: Shutterstock, Mischpult