#Interview

“‘Fake it, until you make it’ war und ist für uns keine Option”

Der B2B-Softwareanbieter Varycon, bei dem sich alles um Media Content dreht, startete einst als klassische Agentur. "Durch unser Agentur-Business hatten wir bereits viel Erfahrung mit unserer Kundenzielgruppe", sagt Gründer Lars Reinartz. Auf externe Geldgeber verzichtete das Team bisher.
“‘Fake it, until you make it’ war und ist für uns keine Option”
Donnerstag, 23. November 2023VonAlexander Hüsing

Das Mönchengladbach Unternehmen Varycon, 2019 von Lars Reinartz, Christian Behrens und Bernd Brassel gegründet, hilft mit seiner Lösung Unternehmen dabei, ihren Media Content zu erstellen und international zu adaptieren. “Die Herangehensweise ähnelt der des Schreibens eines Briefings, nur mit dem Unterschied: Nach dem Eintippen des Briefings wird einfach ein Button gedrückt und innerhalb weniger Minuten ist das Ergebnis bereits da anstatt wie für gewöhnlich erst nach mindestens einer Woche mit diversen Abstimmungsrunden”, erklärt Gründer Reinartz.

In den vergangenen Jahren entwickelte sich das Unternehmen dabei neben dem Agenturgeschäft (unter der Marke Recordbay bekannt) zum B2B-Softwareanbieter weiter. Bei der Media Production und noch spezieller bei der Adaption, Internationalisierung und Personalisierung von Video Content haben wir miterlebt, wie schwierig es für Brands ist, schnell Ergebnisse zu erhalten und somit auch reagieren zu können”, führt Reinartz weiter aus.

Bisher bauten Reinartz und Co. Varycon ohne fremde Geldgeber auf. “Wir wollten uns bewusst selbst in den Markt einarbeiten, Themen ausprobieren und entwickeln und dabei komplett freie Hand haben. Der Erfolg hat uns Recht gegeben und so konnten wir unsere durch die Softwareentwicklung entstandenen Kosten schon nach drei Jahren komplett refinanzieren. Wenn man aus dem eigenen Cashflow heraus wachsen bzw. sich als Firma weiterentwickeln kann, muss man nicht unbedingt externe Geldgeber dazu holen”, erzählt Reinartz.

Im Interview mit deutsche-startups.de spricht der Varycon-Macher außerdem über Balance, Kontaktpunkte und Analysetools.

Wie würdest Du Deiner Großmutter Varycon erklären?
Mit unserer Lösung können Unternehmen ihren Media Content – von einfachen Social Media Posts, über HTML-Banner bis hin zu professionellen TV-Spots – eigenständig erstellen und international adaptieren, ohne dabei auf eine Reihe von externen Dienstleistern angewiesen zu sein. Die Herangehensweise ähnelt der des Schreibens eines Briefings, nur mit dem Unterschied: Nach dem Eintippen des Briefings wird einfach ein Button gedrückt und innerhalb weniger Minuten ist das Ergebnis bereits da anstatt wie für gewöhnlich erst nach mindestens einer Woche mit diversen Abstimmungsrunden. Wir helfen Unternehmen somit, ihre Kunden auf verschiedenen Online- und Offline-Kanälen schneller, effizienter und kostengünstiger zu erreichen.

Wie genau funktioniert denn euer Geschäftsmodell?
Wir haben mit Varycon eine B2B-SaaS-Plattform entwickelt, die über den Webbrowser einfach erreichbar ist und durch logische Schnittstellen direkt in die Unternehmensarchitektur unserer Kunden integriert wird. Nutzer erhalten verschiedene Rollen und damit auch unterschiedliche Rechte. So gibt es beispielsweise einen Supervisor, der alle erstellten Formate erst final freigibt, bevor internationale Business Units ihre Länder-Adaptionen der Master-Version final ausspielen und distribuieren können. Content wird gemäß der Vorgaben der Distributoren (beispielsweise TV-Stationen) erstellt, aber vor Allem gemäß den Corporate Design-Vorgaben der Brands und Unternehmen. So können wir sicherstellen, dass Media Content immer konform mit dem Corporate Design unserer Kunden erstellt wird und keine weiteren Dienstleister wie zum Beispiel Agenturen benötigt werden.  Alles läuft autark inhouse, allerdings mit weitaus weniger operativem Aufwand. Unsere SaaS-Lösung wird insbesondere von Konzernen verwendet, die User-Lizenzen kaufen, um Varycon zu nutzen. Neben den User-Lizenzen gibt es noch Credit-Pakete, die für die finale Ausspielung der Formate anfallen. Je nach Umfang bzw. Komplexität des zu erstellenden Contents, fallen mehr Credits an. Beispielsweise benötigt ein TV-Spot natürlich mehr Credits als ein Social Media Post. Generell ist die Kostenersparnis neben der Zeitersparnis für unsere Kunden dabei immens. Für einen TV-Spot werden umgerechnet nur 300 Euro ausgegeben, bei einer Produktionszeit inklusive finalem Ausspielen von maximal einem Tag. Vergleicht man das mit der klassischen Produktion mit externen Partnern, kann man den Aufwand – sowohl zeitlich als auch monetär – mit dem Faktor 5 multiplizieren. Credits können in Paketen erworben werden, beispielsweise zum Jahresanfang, aber auch zu jeder Zeit nachgekauft werden.

Ihr habt euch in den vergangenen Jahren von einer Agentur zum B2B-Softwareanbieter entwickelt. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Wir haben schon immer gerne unsere Expertise in den Bereichen Media Production – Video, 3D, Digital Experiences – und Computer Science genutzt, um immersive Erlebnisse zu schaffen und Kreativität und Development zu verbinden. Bei der Media Production und noch spezieller bei der Adaption, Internationalisierung und Personalisierung von Video Content haben wir aber miterlebt, wie schwierig es für Brands ist, schnell Ergebnisse zu erhalten und somit auch reagieren zu können. Zu viele einzelne Gewerke sind im Spiel, von deren zeitlichen Verfügbarkeit man abhängig ist und es fließen immense Beträge für die Bereitstellung offener Daten, neue Voice-Over-Recordings, Übersetzungen, Anpassung von Produkten (Labels), etc. So wird aus einer kleinen Anpassung von Text in einem Video ein Projekt mit einem Umfang von mindestens einer, wenn nicht sogar zwei Wochen. Bei diesem Pain Point – der fehlenden Flexibilität und Möglichkeit, auf Kunde oder Konkurrenz reagieren zu können – wollten wir ansetzen und eine digitale Lösung entwickeln, sodass Brands und Unternehmen ihren Content schneller und effizienter erstellen können. Unsere Vorstellung: Die Erstellung eines neuen Content Pieces darf nicht aufwändiger sein, als das Briefing dafür zu schreiben. Heißt, die Erstellung in Varycon ist in der Zeit des Schreibens des Briefings abgeschlossen, während auf dem klassischen Weg erst dann die Arbeit mit externen Partnern beginnt. Aktuell bzw. schon seit einem Jahr beschäftigen wir uns auch mit KIs für unterschiedliche Anwendungsfälle. Durch den Einsatz von KI und vor Allem die perfekte Orchestrierung verschiedener KIs innerhalb eines Produktionsprozessen, bieten wir unseren Kunden die Möglichkeit, hier noch schneller und damit effizienter zu werden.

Wie hat sich Varycon seit der Gründung entwickelt?
Da wir schon seit unseren Anfängen als Agentur in Mönchengladbach ein sehr starkes Team aus Software Developern und Creatives – Video, Animation, 3D – aufgebaut haben, das auch sehr stark an neuen Entwicklungen interessiert ist, ist unsere Mitarbeiterzahl im Prinzip über die Jahre gleich geblieben. Wir sind weiterhin ein Team, das aus 24 Mitarbeitern besteht, von denen einige remote oder im Homeoffice im In- oder Ausland arbeiten. Der Fokus liegt aber jetzt noch mehr auf der Zusammenarbeit, einem ständigen Austausch und auch direkten Kontaktpunkten in der Arbeit der Einzelnen. So programmieren unsere Designer mittlerweile auch Templates bzw. durchdenken diese vorab logisch, um für den Kunden möglichst viele Use Cases zu komprimieren, befassen sich mit den neuesten KI-Themen und wie man diese in Varycon integrieren kann. Auch unsere Developer denken kreativer und versetzen sich in den Produktionsprozess, der auf Kundenseite stattfindet, um Ideen zu entwickeln, wie wir diese noch einfacher gestalten können und somit noch mehr Aufwand auf Kundenseite reduzieren können. Im Grunde sind wir vom Dienstleister, der die kreative Arbeit bei der Produktion von Media Content für seine Kunden übernommen hat, zum Softwareanbieter geworden. Mit Varycon kann die Arbeit von externen Agenturen nun inhouse von den Kunden selbst erledigt werden. Wichtig dabei zu erwähnen ist aber, dass wir die Agenturen nicht ausgrenzen wollen. Denn die kreative Idee und auch die einzelnen Assets, die beispielsweise aus Shootings entstehen, können wir nicht übernehmen. Hier arbeiten wir eng mit den Agenturen zusammen.

Ihr habt euer Startup bisher ohne Investorengelder aufgebaut. War dies von Anfang an eine bewusste Entscheidung?
Ja, das war es. Wir wollten uns bewusst selbst in den Markt einarbeiten, Themen ausprobieren und entwickeln und dabei komplett freie Hand haben. Der Erfolg hat uns Recht gegeben und so konnten wir unsere durch die Softwareentwicklung entstandenen Kosten schon nach drei Jahren komplett refinanzieren. Wenn man aus dem eigenen Cashflow heraus wachsen bzw. sich als Firma weiterentwickeln kann, muss man nicht unbedingt externe Geldgeber dazu holen.

Wie war der Start ohne fremdes Geld – was geht recht einfach, was ist als Bootstrapping-Startup recht schwierig?
Die Entwicklung von eigener Technologie ist definitiv etwas schwieriger ohne einen Investor, der einem als Backup tendenziell im Notfall mehr Runway ermöglichen kann, wenn unvorhergesehene Challenges auftreten – vor allem, wenn man bereits Overhead-Kosten für ein bestehendes Team hat. Aber durch unser Agentur-Business hatten wir bereits viel Erfahrung mit unserer Kundenzielgruppe. Wir wussten beispielsweise, wie Konzerne arbeiten, welche Pain Points sie haben, welche Strukturen wir beim Aufsetzen unserer Plattform berücksichtigen müssen und welche Legal-Anforderungen bestehen. So konnten wir unser eigenes Investment aus den Agentur-Umsätzen direkt “auf die richtige Karte” setzen und unser Produkt exakt auf die Bedürfnisse unserer Kunden zugeschnitten entwickeln.

Gab es denn viele Dinge, die Du einfach nicht umsetzen konntest, weil das Geld fehlte?
Natürlich konnten wir in den ersten Jahren beispielsweise keine vergleichsweise großen Marketing-Kampagnen durchführen, um uns direkt schneller als Softwareanbieter im Markt zu positionieren und auch unser Sales-Team mussten wir zunächst Schritt für Schritt aufbauen. Wir haben erst einmal den Fokus auf die Entwicklung und den Ausbau des Produkts gelegt anstatt zu viel öffentlichkeitswirksamen Wirbel zu machen. Der “Fake it, until you make it”-Ansatz war und ist für uns als Unternehmen keine Option. Daher haben wir Varycon erst einmal corporate-ready gemacht, das heißt API-Schnittstellen ausgebaut, Single-Sign-On (SSO) integriert und diverse Pen- und Funkionstests durchlaufen. Jetzt können wir stolz darauf sein, dass Varycon perfekt in Enterprise-Unternehmensstrukturen integriert werden kann und alle Vorgaben im Bereich Legal, Laufleistung, User Journey, etc. erfüllt – und so etwas spricht sich ja bekanntlich auch herum.

Was rätst du anderen Gründer:innen, die sich für Bootstrapping entscheiden?
Der erste Rat ist: Nicht in Panik geraten! Wenn man sich selbst finanziert, achtet man auch mehr darauf, was man macht und wie man sein Geld einsetzt und wird gegebenenfalls sehr vorsichtig. Man denkt mehr über einzelne Schritte nach. Wichtig ist dabei aber auch – und das ist mein zweiter Rat – man sollte die Sachen nicht zerdenken, denn das lähmt einen als Unternehmer und Organisation langfristig. Wenn sich eine Chance auftut, sollte man sie kurz überdenken, aber sie dann auch ergreifen, bevor es ein Anderer macht.

Blicke nun bitte noch einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Richtig schief gegangen ist glücklicherweise nichts, da wir die oben genannte Balance zwischen “zu viel nachdenken” und “zu impulsiv handeln” gut halten konnten. Aber wir haben uns vielleicht das ein oder andere Mal zu viel Arbeit gemacht, die wir durch weniger Impulsivität besser umsetzen hätten können. Das betrifft aber eher Punkte wie die Wahl von Tools für die eigenen internen Abläufe, zum Beispiel für unser CRM oder den Aufbau unserer Website.

Und wo hat Ihr bisher alles richtig gemacht?
Unser Fokus, darauf zu setzen, dass wir Varycon erst einmal als eine optimale, corporate-ready-Lösung aufbauen hat sich als richtig erwiesen, da unsere Kunden uns dies auch durch ihr Feedback versichern bzw. widerspiegeln. Es bringt nichts, viel Wirbel um eine potenzielle Lösung zu machen, die dann nicht funktioniert oder nicht das halten kann, was sie verspricht und somit Kunden enttäuscht oder verärgert. Gerade in der Anfangszeit muss man Vertrauen auf Kundenseite aufbauen – ein Produkt muss einfach funktionieren und die gewünschten Ergebnisse liefern. Weiter war eine richtige Entscheidung, dass wir uns auch schon vor sehr vielen Jahren mit dem Thema Künstliche Intelligenz (KI) beschäftigt haben. Schon früh haben wir den Markt und die existierenden Lösungen eingehend analysiert, ausprobiert und gelernt, die einzelnen Tools zu orchestrieren, um sie für die Use Cases unserer Kunden perfekt kombiniert in Varycon einsetzbar zu machen.

Wo steht Varycon in einem Jahr?
Aktuell haben wir viele spannende Gespräche mit Kunden aus den Bereichen Retail und FMCG, die Pilotprojekte mit uns umsetzen möchte. Auch mit Blick auf die aktuellen KI-Enwicklungen testen und integrieren wir immer mehr Tools in Varycon, die die Content Creation für unsere Kunden noch effizienter und automatisierter gestalten. Seien es Möglichkeiten zum Lip Sync, um internationalen Content noch effizienter, aber vor allem authentischer zu gestalten, die Anbindung von externen Auswertungs- und Analysetools, um Video Content noch zielgerichteter und personalisierter an einzelne Persona und Zielkunden auszuspielen – vor allem nach Wegfall der Third Party Cookies – oder Tools zur Animation statischer Aufnahmen, um die Produktionskosten für Assets weiter zu minimieren. Der Markt entwickelt sich gerade rasant und unser Team aus Experten ist mittendrin an vorderster Front dieser Entwicklungen. Aber auch der Produktkern von Varycon wird losgelöst von KI noch weiter ausgebaut, um Content noch effizienter inhouse produzieren zu können.

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Foto (oben): Varycon

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.