#Gastbeitrag

Europäische Startups laufen nur den Trends aus den USA hinterher

Statt immer nur den neuesten Trends hinterherzulaufen, braucht Startup-Europa ein eigenes Gesicht. Wir müssen herausstellen, was die europäischen Märkte besser machen als andere und auf diesem Fundament ein Selbstverständnis etablieren. Ein Gastbeitrag von Ronald Paul.
Europäische Startups laufen nur den Trends aus den USA hinterher
Freitag, 27. Oktober 2023VonTeam

Die letzten großen Technologie- und Wirtschaftstrends kamen selten aus Europa. Das ist kein Zufall. Europäische Startups und Investoren laufen seit Jahren den neuesten Trends aus Amerika und Asien hinterher, statt eigene Akzente zu setzen. So ist es schwer, langfristig erfolgreiche Unternehmen zu etablieren.

Die europäische Startup-Szene steckt in der Krise. Die allgemein schwierige ökonomische Lage hat für Vorsicht bei den Investoren gesorgt und immer mehr europäische Startups scheitern damit, Geldgeber von ihrer Resilienz zu überzeugen. Im zweiten Quartal 2023 wurden laut Pitchbook nur 12,4 Milliarden US-Dollar in europäische Startups investiert, halb so viel wie noch vor einem Jahr. Im ersten Quartal sah es mit 10,6 Milliarden investierten US-Dollar, sogar zwei Drittel weniger als im Vorjahr, nicht besser aus. Nach dem großen Hype zwischen 2018 und Anfang 2022, als sich die Anzahl europäischer Unicorns nahezu versechsfacht hat, ist der aggregierte Wert der Unicorns in Europa das erste Mal seit Jahren gefallen. Auch in den USA verzeichnet der Markt laut Crunchbase ein Minus von 50 Prozent im Jahresvergleich des zweiten Quartals. Allerdings gibt es aus den USA bereits wieder positive Nachrichten und einige große Finanzierungsrunden sorgen für Aufbruchsstimmung. Darunter sind mindestens 22 Early-Stage-Runden, die über 100 Millionen US-Dollar erreicht haben, allein im zweiten Quartal. In Europa ist der Markt weiterhin deutlich verhaltener. Das liegt in erster Linie daran, dass selbst in den Boomjahren primär in Ideen investiert wurde, die sich in anderen Teilen der Welt längst als zukunftsweisend erwiesen haben, statt eigene Impulse in neue Ideen zu setzen.

Europa rennt dem AI-Trend hinterher

Das sehen wir auch an der aktuell größten Hoffnung im Markt: Mit ChatGPT ist der Hype um AI so richtig eingeschlagen. Die zugrundeliegenden AI-Technologien sind aber schon seit Jahren in der Entwicklung und werden bereits erfolgreich eingesetzt, auch in Europa. Das Londoner Startup Greyparrot nutzt AI, um Plastikmüll im Recycling-Prozess besser zu identifizieren. Kürzlich hat das Startup eine Studie gestartet, die zeigen soll, wie viel Polypropylen tatsächlich wiederverwertet wird. Die Lebensspanne von Batterien besser überwachen zu können, das hat sich ein Startup aus München zum Ziel gesetzt, dafür hat Twaice bereits über 69 Millionen Euro eingesammelt. Gerade mit Blick auf die wachsende Bedeutung der Elektromobilität ist diese Technologie zukunftsweisend. Beide Jungunternehmen haben Produkte mit einem klar definierten Mehrwert entwickelt und konnten sich in ihren Segmenten fest etablierten, wobei sie das auch schon seit 2019 tun. 

Der Hype, der nun durch ChatGPT und generative AI ausgelöst wurde, flutet den Markt mit vielen weiteren Geschäftsideen. Viele dieser Gründer werben vor allem mit dem Thema AI um Kapitalgeber, weniger damit, dass sie ein wirtschaftliches Problem lösen. Das hat einen guten Grund, denn wie der europäische Markt auf Trends wie AI reagiert, verdeutlicht der kometenhafte Aufstieg von Mistral AI. Das französische Startup hat innerhalb der ersten Wochen seiner Existenz über 100 Millionen Euro Risikokapital eingesammelt, ohne bis dahin ein eigenes Produkt entwickelt zu haben. Allein die Beteiligung ehemaliger Mitarbeiter von Googles Deepmind und Meta sowie das Versprechen, ein Large Language Modell zu entwickeln, hat ausgereicht, das bestfinanzierte AI-Startup in Europa zu werden. Das heißt ausdrücklich nicht, dass Mistral AI in jedem Fall scheitern wird, aber es stellt sich schon die Frage, ob das Unternehmen tatsächlich mit dem von Microsoft geförderten ChatGPT, Google’s Bart und dem Startup Anthropic, in das Amazon gerade erst vier Milliarden US-Dollar investiert hat, auf Augenhöhe in den Wettbewerb gehen kann. Der Treiber hinter den Investitionen in Mistral AI ist vermutlich primär die Angst des europäischen Marktes beim Thema AI abgehängt zu werden. Die großen US-Namen, die mit den Gründern verbunden werden, taten ihr Übriges. Das überzeugende Produkt war jedenfalls nicht ausschlaggebend — es existierte ja noch gar nicht. 

Dabei ist Europa beim Thema AI in einem Punkt wirklich Vorreiter. Der AI-Act der Europäischen Union hat internationale Vorbildfunktion und der Ratifizierungsprozess wird international sehr genau beobachtet. Wir Europäer haben langjährige Erfahrung damit, staatliche Reglementierungen mitzudenken, wenn wir Unternehmen gründen. In den USA wird meist erst reglementiert, wenn ein Markt sich entwickelt hat. Das könnte dieses Mal anders laufen. Die USA und Europa arbeiten im Bereich AI-Regulierung bereits eng zusammen. Beim vierten Treffen des US-EU Trade & Tech Council Ende Mai haben sich die EU und die USA darauf geeinigt, einen gemeinsamen Code of Conduct für AI zu entwickeln. Dieser Code of Conduct ist zwar nicht bindend, soll aber einer bindenden Regulierung vorausgehen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis auch in den USA stärker reguliert wird. Europäische AI-Startups könnten dann mit Lösungen in den Startlöchern stehen.

Wie wir den Kreislauf des Hypes brechen können

Lösungsorientiertes Denken und das Nutzen eigener Standortvorteile sind entscheidend für den Erfolg von Gründern. Der Hype Cycle, wie ihn Gartner bereits 2015 in einem Modell beschrieben hat, kann für Startups und Investoren hingegen zum Spinnennetz werden. Der Kreislauf des Hypes läuft in etwas so ab: Eine neue Technologie oder Idee zeigt großes Potenzial, die Prognosen und Versprechen überschlagen sich. Die überzogene Erwartung wird jedoch schnell enttäuscht, viele Marktteilnehmer verschwinden, das Geld fließt nicht mehr. Mit etwas Abstand etablieren sich dann einige wenige Unternehmen mit tatsächlich marktreifen Geschäftsmodellen. Die letzte große Technologie, die diesen Kreislauf durchlaufen ist, war die Blockchain. In 2016/2017 hieß es, die Blockchain werde die Bankenwelt revolutionieren. Die Kurse von Kryptowährungen wie Bitcoin und Etherium stiegen ins unermessliche. Dann kam 2018 die Enttäuschung und die Kurse sanken. Seit die Kurse der Währungen Anfang 2022 endgültig in den Keller fielen, ist es leiser geworden um die Blockchain, trotzdem wird sie genutzt und weiterentwickelt. Startups wie Open Campus entwickeln Produkte, die die Blockchain als Basis nutzen, ihren Zweck aber anders definieren. 

Leider kommen Unternehmen, die nach dem Hype zeigen, dass eine Technologie tatsächlich langfristig profitabel nutzbar ist, aktuell viel zu selten aus Europa. Die meisten Investitionen fließen in Europa auf der Höhe des Hypes, wenn Produkte und Anbieter verfrüht auf den Markt drängen. Um ein Startup-Ökosystem aufzubauen, das tatsächlich den Innovationsstandort Europa stärkt, müssen wir umdenken. Gründer und Investoren müssen wieder stärker auf klassische unternehmerische Tugenden bauen: Langfristige Planung, solide Geschäftsmodelle und überzeugende Produkte. Gleichzeitig braucht es mehr Risikobereitschaft eigene Wege zu gehen, neue Ideen zu entwickeln und schnelle Entscheidungen zu treffen. 

Als Investoren müssen wir lernen, dass es Zeit braucht, tatsächlich innovative Geschäftsmodelle zu etablieren. Geduld ist gefragt. Um unser eigenes Risiko bei langfristigen Investments zu minimieren, müssen wir mehr Zeit und Energie in die Evaluation bevor wir investieren stecken. So können wir sicherstellen, dass Kapital in die Startups fließt, die den Markt tatsächlich voranbringen.

Ein eigenes Selbstverständnis für die europäische Startup-Landschaft

Statt den neuesten Trends gedankenlos hinterherzulaufen, braucht Startup-Europa ein eigenes Gesicht. Wir müssen herausstellen, was die europäischen Märkte besser machen als andere und auf diesem Fundament ein gemeinsames Selbstverständnis etablieren. Der Wirtschaftsstandort Europa zeichnet sich seit Jahrzehnten dadurch aus, gut ausgebildete Fachkräfte, solide wirtschaftende Unternehmen und gesellschaftliche Belange wie Umweltschutz und Arbeitnehmerrechte erfolgreich unter einen Hut zu bringen. Besonders etablierte Familienunternehmen haben ihren Erfolg in Europa immer auch auf einer tiefen Verankerung innerhalb der lokalen Gesellschaft aufgebaut. Diese Kombination aus Expertise und ethischer Wirtschaftsführung wird in den nächsten Jahrzehnten global rapide an Bedeutung gewinnen. Gerade beim Thema AI sind die Diskussionen rund um Urheberrecht, Kennzeichnungspflicht und die Implikationen für den Arbeitsmarkt in vollem Gange. Auch in den USA steigt das Bewusstsein dafür, dass Unternehmen Verantwortung tragen. Verbinden wir diese klassischen Unternehmertugenden mit frischen Ideen und neuen Technologien, die aus lokaler Expertise entstehen, können wir gemeinsam eine neue Generation an langfristig erfolgreichen Europäischen Unternehmen aufbauen.

Über den Autor
Ronald Paul ist ein in München ansässiger Unternehmer und Investor. Als Gründer mehrerer Unternehmen verfolgt er einen “Gründer für Gründer”-Ansatz und setzt seinen Fokus auf Nachhaltigkeit. Er ist der Gründer und Geschäftsführer von Muzungu Capital, einem Venture-Capital- und Private-Equity-Unternehmen, das sich auf die Unterstützung innovativer Start-Ups insbesondere in den Bereichen MarTech, PropTech, DeepTech und FinTech konzentriert, die sich von der Frühphase zu einer starken Marktposition entwickeln. Ronald Paul ist zudem Gründer und Geschäftsführer von Muzungu Realestate, einem PropTech-Investmentunternehmen, das sich auf die Identifizierung und Investition in wachstumsstarke, nachhaltige PropTech-Startups spezialisiert hat. Alle seine Unternehmen verfolgen das gemeinsame Ziel, nachhaltige und verantwortungsvolle Investitionen zu fördern und das Branchenwachstum voranzutreiben. Durch die Bereitstellung von persönlicher Unterstützung, wertvollen Ressourcen und Know-how helfen sie Startups bei der Bewältigung der Herausforderungen und Chancen des Unternehmenswachstums.

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Foto (oben): Shutterstock