#Interview

“Wir haben definitiv den Nerv der Zeit getroffen”

Das Berliner Startup tucan verschriftlicht Meetings und erstellt Zusammenfassungen. "Wir sind die einzige Software am Markt, die die deutsche Sprache, so präzise erfassen und verarbeiten kann wie sprachlich gut ausgebildete Menschen – das ist KI", sagt Gründer Lukas Rintelen.
“Wir haben definitiv den Nerv der Zeit getroffen”
Dienstag, 11. Juli 2023VonAlexander Hüsing

Hinter dem Berliner Startup tucan, das 2020 von Michael Schramm, Florian Polak und Lukas Rintelen gegründet wurde, verbirgt sich ein “Tool für produktivere Meetings”. “Unsere Software hört zu, verschriftlicht das Gespräch parallel und erstellt eine Zusammenfassung bzw. ein Abstract – ähnlich wie der Klappentext eines Buches.  Das Schöne dabei ist, dass Tucan automatisch dazu lernt. Wir sind die einzige Software am Markt, die die deutsche Sprache, präzise erfassen und verarbeiten kann wie sprachlich gut ausgebildete Menschen”, sagt Gründer Rintelen.

IBB Ventures, die HT Venture Group, Wayra Deutschland und APX investierten zuletzt eine siebenstellige in das Unternehmen. “Wir haben mit unserer Lösung definitiv den Nerv der Zeit getroffen und wie gesagt, es gibt aktuell wenig, das nicht rund läuft. Wir wachsen stetig”, erzählt Rintelen. Im Interview mit deutsche-startups-de spricht der tucan-Macher zudem über Bürokratie, Textverständnis und Risikokapital. 

Wie würdest Du Deiner Großmutter tucan erklären?
Tucan.ai transkribiert gesprochenes Wort, fasst das Gesagte schriftlich zusammen und macht es dann für alle Kolleg:innen verfügbar und durchsuchbar. Hier ein Beispiel: Wir sitzen an der Arbeit in einem Meeting und reden zu dritt darüber, welche Vor- und Nachteile Künstliche Intelligenz (KI) für unser tägliches Leben hat. Unsere Software hört zu, verschriftlicht das Gespräch parallel und erstellt eine Zusammenfassung bzw. ein Abstract – ähnlich wie der Klappentext eines Buches. Kommt ein:e Kolleg:in in zwei Wochen auf die Idee, eine Liste mit allen Vor- und Nachteilen von KI zu erstellen, kann sie oder er Tucan.ai öffnen, “Künstliche Intelligenz” in eine Suchmaske eingeben und unsere Argumente nachlesen. Das Schöne dabei ist, dass Tucan.ai automatisch dazu lernt. Wir sind die einzige Software am Markt, die die deutsche Sprache, ihre Dialekte und Jargons sowie individuelle Spracheigenschaften von Personen und Organisationen so präzise erfassen und verarbeiten kann wie sprachlich gut ausgebildete Menschen – das ist KI.

Wie genau funktioniert euer Geschäftsmodell?
Wir haben aktuell zwei Produkte: ein cloudbasiertes Standard-Produkt und ein Enterprise-Modell, das bei Bedarf auch on-premise genutzt werden kann. Die Standardversion erlaubt es Meetings und Calls zu managen, indem unser Bot zu bestehenden und neuen Sitzungen eingeladen oder eine Aufzeichnung hochgeladen werden kann. Tucan.ai erstellt dann ein Transkript sowie eine Zusammenfassung des Gesprächs, die aus einer Executive Summary und Bullet Points besteht. Beim Enterprise-Produkt passen wir das Interface individuell an die Wünsche und Vorgaben unserer Kund:innen an. Das reicht vom Corporate Design bis hin zu betrieblichen Compliance- oder Datenschutzvorgaben. Wir haben beispielsweise einen Großkunden, für den das Transkript direkt nach einem Meeting gelöscht werden muss, sodass die Mitarbeiter:innen nur die Zusammenfassung einsehen können. Ein weiterer Kunde ist aus der Marktforschung, hier sind zusätzliche Codierungsmöglichkeiten direkt in unser Produkt integriert. Darüber hinaus sind wir bei privaten wie öffentlichen Organisationen im Einsatz, die Tucan.ai direkt auf ihren Servern hosten, da sie besonderen Datenschutzrichtlinien unterliegen. Allgemein ist unsere KI so aufgebaut, dass sie an bestehende Prozesse angedockt werden kann. Wir arbeiten laufend an neuen Integrationen.

Was lief 2023 bei Euch bisher richtig gut und was lief gar nicht rund?
Unser Produkt verbessert sich rasant. Fast wöchentlich können wir derzeit neue Features testen und zur Verfügung stellen. Vor ein paar Wochen ging beispielsweise das Bullet-Point-Feature live. Aktuell gibt es tatsächlich wenig, das nicht rund läuft.

Gab es sonst noch spannende Highlights oder Herausforderungen bei Euch?
Ein kleines Highlight war sicherlich, dass wir den diesjährigen Start-up Pitch von marktforschung.de und Consulting.de gewonnen haben. Das ist ein Startup-Wettbewerb speziell für die Marktforschungs-, Beratungs- und Data Analytics-Branche. Hier konnten wir neben einer Fachjury auch das Publikum von uns überzeugen. Das hat uns noch einmal gezeigt: Wir haben einen Nerv getroffen. Außerdem sind wir seit Kurzem Mitglied im Bundesverband IT-Mittelstand, in dem sowohl etablierte Mittelständler als auch Startups aktiv sind. Wir freuen uns auf das Netzwerk und den Austausch. Es ist wichtig, nicht nur auf sich selbst zu schauen, sondern auch mal anderen zuzuhören: Was beschäftigt andere Unternehmer:innen gerade, was sind ihre Hürden und Lösungen? Zu guter Letzt ist uns in den vergangenen Monaten gelungen, eine Reihe sehr spannender Projekter mit Enterprise-Kunden aus verschiedenen Branchen an Land ziehen. Zu den Hürden zählen sicherlich zwei Dinge: Zum einen müssen wir weiter an den Trainingsdaten für unsere KI-Algorithmen feilen. Ein Beispiel: Wenn man zu viele ähnliche Daten sammelt und damit von einem generalistischen zu einem spezifischen Modell wechselt, kann es zu einem sogenannten “Overfitting” kommen. In der Praxis bedeutet das, dass sich der Algorithmus in bestimmten Bereichen zu sehr spezialisiert, in anderen aber nicht mehr so gut funktioniert. Zweitens arbeiten wir am tieferen Textverständnis unserer KI. Das ist zum Beispiel wichtig, um Strukturen oder die Gewichtung von Argumenten in Meetings zu erkennen. Ich bin mir aber sicher, dass wir auch diese Herausforderungen erfolgreich meistern  werden. Wir haben ein großartiges internationales Team voller junger Expert:innen, die mit großer Leidenschaft hinter der Weiterentwicklung unserer Algorithmen stehen.

Wie genau lief es denn zuletzt wirtschaftlich bei Euch?
Wir haben mit unserer Lösung definitiv den Nerv der Zeit getroffen und wie gesagt, es gibt aktuell wenig, das nicht rund läuft. Wir wachsen stetig.

Es herrscht derzeit Krisenstimmung in der deutschen Startup-Szene. Was ist Deine Sicht auf diese Eiszeit?
9,9 Milliarden Euro Risikokapital gab es 2022 für deutsche Startups. Das ist ein Rückgang um 43 % im Vergleich zu 2021. Wir dürfen dabei jedoch nicht außer Acht lassen, dass die 9,9 Milliarden das zweitstärkste Ganzjahresergebnis der Erhebung sind. Ich würde die Situation daher nicht unbedingt als eine Eiszeit bezeichnen – den Begriff verbinde ich eher mit einer anhaltend lebensfeindlichen Umgebung. Vielleicht ist hier Winter der bessere Ausdruck? Mein Gefühl ist, dass sich die Lage im Moment wieder einpendelt. Und angesichts des Booms, den wir gerade am globalen Markt für sprachbasierte KI bzw. Verarbeitung natürlicher Sprache (NLP) erleben, sind wir sehr optimistisch. 

Welches Projekt steht in den kommenden Monaten ganz oben auf der Agenda bei Euch?
Ganz oben steht aktuell die Erweiterung unserer Codierungsfunktion, da uns in den vergangenen Monaten diesbezüglich viele Anfragen aus der Marktforschung erreicht haben. Zudem arbeiten wir mit Hochdruck an der Weiterentwicklung unseres KI-Archivierungssystems, mit dem Unternehmen künftig ihre Sprach- und Textdaten in smarten Wissensdatenbanken organisieren können. 

Wo steht tucan in einem Jahr?
Wir haben einige aufregende neue Features in Arbeit, die unseren Kund:innen helfen werden, noch tiefere Einblicke in ihre Sprachdaten zu gewinnen Es wird ein sehr spannendes Jahr für Unternehmen, die den technologischen Fortschritt des angebrochenen KI-Zeitalters nutzen wollen, um ihre Produktivität zu steigern und bessere datengestützte Entscheidungen zu treffen. Unsere Vision ist es, Menschen von lästiger Bürokratie und repetitiven Aufgaben zu befreien, sodass knappe Ressourcen vermehrt für das genutzt werden können, was wirklich wichtig ist – kreative Arbeit, Strategieentwicklung und so weiter. Wenn eine KI alle Informationen aus unseren Calls und Meetings verlässlich für uns aufbereitet, müssen wir zum einen unsere Zeit und Energie nicht mehr in Aufgaben wie Protokollierung stecken. Zum anderen werden wertvolle qualitative Daten schnell und einfacher nutzbar gemacht, weil sie nicht mehr in unübersichtlichen Silos untergehen. Wie eingangs erwähnt, haben wir meiner Meinung nach den Nerv der Zeit genau getroffen. Und so wie sich die Dinge aktuell entwickeln, gehe ich davon aus, dass wir in einem Jahr einer der erfolgreichsten und versiertesten Anbieter von KI-Tools für Meetingmanagement und Konversationsanalyse sein werden – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

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Foto (oben): tucan, Oliver Magda

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.