#Interview

“Gerade in der Anfangszeit waren wir zu breit aufgestellt”

"Am Anfang wurden wir von vielen Unternehmen belächelt", sagt Scandit-Gründer Samuel Müller. "Mittlerweile beschäftigen wir weltweit mehr als 500 Mitarbeiter. Wir sind stolz auf rund 2000 Unternehmenskunden und unsere Software läuft auf über 150 Millionen Geräten."
“Gerade in der Anfangszeit waren wir zu breit aufgestellt”
Freitag, 30. September 2022VonAlexander Hüsing

Scandit aus Zürich, das 2009 von Christof Roduner, Christian Floerkemeier und Samuel Müller gegründet wurde, ermöglicht Unternehmen Augmented Reality, Barcode-Scanning, Text- und Objekterkennung in ihre Apps zu integrieren. Der Wachstumsfinanzierer Warburg Pincus investierte zuletzt gemeinsam mit Altinvestoren 150 Millionen Dollar in Scandit. Im Zuge der Investmentrunde wurde das Unternehmen mit mehr als 1 Milliarde Dollar bewertet und erreichte somit Unicorn-Status.

“Die Reise hat uns viel Zeit und Mühe gekostet. Am Anfang wurden wir von vielen Unternehmen belächelt, die nicht an die Umsetzung unserer Idee glaubten. Der CIO eines großen Lebensmittelhändlers sagte uns einmal, unsere Technologie würde nie schnell und zuverlässig genug sein, um in geschäftskritischen Anwendungen zum Einsatz zu kommen und dedizierte Scan-Geräte abzulösen”, Gründer Müller zum Stand der Dinge bei Scandit. Inzwischen arbeiten mehr als 500 Mitarbeiter:innen für das Unternehmen. 

Im Interview mit deutsche-startups.de spricht der Scandit-Macher Müller außerdem über Bilderkennung, Algorithmen und geradlinigeres Vorwärtskommen.

Wie würdest Du Deiner Großmutter Scandit erklären?
Im Grunde verleihen wir übernatürliches Sehvermögen. Zwar können wir nicht fliegen oder durch Wände schauen, aber unterstützen mit Hilfe Computer-basierter Bilderkennung auf Smart Devices Unternehmen, Mitarbeiter und Kunden dabei, große Mengen an Daten in kurzer Zeit zu sammeln und einfach auf relevante Informationen zuzugreifen. Dafür bauen wir eine Brücke zwischen der realen und digitalen Welt, indem wir      Barcodes, Text und sogar Objekte erkennen, analysieren und die darin enthaltenen Informationen verarbeiten oder sichtbar machen. Wir unterstützen mit unseren Lösungen zahlreiche Branchen wie Einzelhandel, Transport, Logistik oder auch das Gesundheitswesen und die Fertigung. Damit können wir im Einzelhandel zum Beispiel helfen, Inventurprozesse schneller, zuverlässiger und kostengünstiger durchzuführen, die Organisation von Lagerbeständen zu vereinfachen oder den Kunden im Laden mehr Details über ein Produkt anzuzeigen. So sparen Unternehmen mit unserer Lösung nicht nur Zeit und Geld, sie vereinfachen auch die Arbeit für ihre Angestellten. Wenn unsere Technik viele der Aufgaben automatisch übernimmt, bleibt ihnen mehr Zeit für die Beratung – was wiederum die Kunden freut.

War dies von Anfang an euer Konzept?
Unsere ursprüngliche Vision war es immer, die Welt um uns herum interaktiver zu machen und durch relevante Informationen und Dienste den Alltag von Konsumenten und Mitarbeitern zu vereinfachen. Anfangs dachten wir, dass wir dieses Ziel mit Hilfe von RFID-Technik erreichen könnten. Als sich aber Smartphones und ihre integrierten Kameras weiterentwickelten, wurde es möglich, komplexe Bilderkennungsalgorithmen direkt auf diesen Geräten auszuführen. Benutzer konnten nun einfach Barcodes von Produkten und Artikeln aus Supermärkten, Lagerhäusern, Fabriken oder einem Lieferwagen mit einem mobilen Gerät scannen und so leicht mit ihnen interagieren. Dies vereinfachte die nahtlose Interaktion mit der Umwelt erheblich und gab uns mehr Möglichkeiten. Mittlerweile haben wir unser Konzept erweitert und decken auch die Bereiche Text- und generische Bilderkennung ab.

Wie genau funktioniert denn euer Geschäftsmodell?
Wir konzentrieren uns unter anderem auf große Einzelhändler, Logistikfirmen, Fertigungsunternehmen sowie auf das Gesundheitswesen. Unser Geschäftsmodell ist abonnementbasiert, wobei Unternehmen unsere mobile Software als zentralen Bestandteil übergeordneter Anwendungen einsetzen, um interne Unternehmensprozesse wie Wareneingänge, Lagerbestände, Verkaufsprozesse oder verbrauchernahe Anwendungen wie die Bereitstellung von Produktinformationen oder Werbeangeboten zu unterstützen. Unsere patentierten Datenerfassungs-Algorithmen, die auf firmeneigener Datenanalyse und maschinellem Lernen basieren, sorgen für genaue und schnelle Scan-Ergebnisse, selbst unter Bedingungen wie schlechter Beleuchtung oder Reflexionen. Unsere Lösungen für Smart Data Capture helfen bei der schnelleren und einfacheren Verarbeitung über unsere mobilen Apps und verwandeln Smartphones mit Hilfe unserer Datenerfassungs-Plattform in hilfreiche Allround-Geräte. Diese Technologie kann auch bei Wearables, Drohnen und Robotern eingesetzt werden.

Wie ist überhaupt die Idee zu deinem Startup entstanden?
Am Anfang hatten wir die Idee, den Alltag interaktiver zu gestalten. Wir, das waren meine beiden Kollegen und Scandit-Mitbegründer Christian Floerkemeier, Christof Roduner und ich. Kennengelernt hatten wir uns an der ETH Zürich, wo auch die ersten Überlegungen zu unserer Arbeit aufkamen. Der Ausgangspunkt für unsere Vision war damals auch schnell gefunden: Barcodes. Wir fingen mit Algorithmen an, die ein handelsübliches Smartphone in einen Barcodescanner verwandelten. 2009 wagten wir den Schritt und gründeten Scandit, um mit unserem Ansatz der smarten Datenerfassung sowohl Unternehmen als auch Kunden das Leben einfacher zu machen.

Wie hat sich Dein Unternehmen seit der Gründung entwickelt?
Die letzten Jahre waren durch ein rasches Wachstum geprägt. Mittlerweile beschäftigen wir weltweit mehr als 500 Mitarbeiter – und die Zahl steigt monatlich. Wir sind stolz auf rund 2000 Unternehmenskunden und unsere Software läuft auf über 150 Millionen Geräten.

Im Zuge der letzten Investmentrunde stieg Scandit zum Unicorn auf. Wie schwierig oder einfach war euer Investmentweg bis zu diesem Meilenstein?
Es war keine Selbstverständlichkeit, die Reise hat uns viel Zeit und Mühe gekostet. Am Anfang wurden wir von vielen Unternehmen belächelt, die nicht an die Umsetzung unserer Idee glaubten. Der CIO eines großen Lebensmittelhändlers sagte uns einmal, unsere Technologie würde nie schnell und zuverlässig genug sein, um in geschäftskritischen Anwendungen zum Einsatz zu kommen und dedizierte Scan-Geräte abzulösen. Heute sind wir froh, diesen und viele andere Einzelhändler zu unseren Kunden zählen zu können, aber es war eine harte und durch viele Rückschläge geprägte Arbeit, bis wir schließlich viele der ursprünglichen Herausforderungen überwinden und zu diesem Punkt kommen konnten. Insgesamt waren es fünf Investitionsrunden, die es uns über verschiedene Phasen unserer Geschäftsentwicklung ermöglichten, weiter zu investieren, unsere Produkte auf ein neues Niveau zu heben und mit Scandit weiter zu expandieren. 

Blicke bitte einmal zurück: Was ist in den vergangenen Jahren so richtig schief gegangen?
Mit dem Wissen von heute hätten wir gerade zu Beginn schneller unseren Schwerpunkt auf dem Markt definieren müssen. Mit einer noch fokussierteren und systematischen Vorgehensweise hätten wir Zeit sparen, Investitionen in unpassende Produkte oder Märkte verhindern und ein geradlinigeres Vorwärtskommen ermöglichen können. Gerade in der Anfangszeit waren wir oftmals zu breit aufgestellt und haben zu selten auch mal nein gesagt.

Und wo habt Ihr bisher alles richtig gemacht?
Unser direktes Vertriebsmodell mit einem Fokus auf große Unternehmen hat sich sehr gut bewährt. Darüber hinaus haben wir mit einer analytischen Herangehensweise und vielen Segmentierungen den Weg in die richtigen Zielmärkte und Anwendungsfälle gefunden. Ich sehe auch unsere interne Kommunikation und Unternehmenskultur als gelungen an, was bei größeren Expansionen schnell zu einer Herausforderung wird.

Welchen generellen Tipp gibst Du anderen Gründer:innen mit auf den Weg?
Definiert von Beginn an und überprüft in regelmäßigen Abständen die übergeordnete Vision, die Jahres- und Quartalsziele sowie Zielgruppen und stellt mittels klar definierten KPIs und OKRs klar, wer wofür verantwortlich ist. Und wenn das MVP mal etabliert ist und die Phase der Skalierung ansteht: Definiert und priorisiert mit eurem Team die relevanten Wachstumsvektoren und dazu nötige Organisation mit viel Sorgfalt, damit die nachfolgende Execution der Expansions-Strategie möglichst reibungslos vonstatten geht. Zentral dabei ist auch: Bleibt bei der Expansion in neue Regionen oder Märkte bei der Go-to-Market-Strategie, die bereits funktioniert und weicht nicht zu stark davon ab.                

Wo steht Scandit in einem Jahr?
Wir expandieren derzeit stark im asiatischen Raum und vergrößern unser Team stetig. Hier erwarten wir in der nahen Zukunft also viel Bewegung und viel Neues. Auf Seite der Technologie bauen wir unser Produktportfolio weiter aus, besonders stark investieren wir hier in optimierte Machine-Learning- und Computer-Vision-Modelle sowie dem Bereich der autonomen Geräte, zum Beispiel Roboter mit Objekterkennungsfähigkeiten. Alles in allem werden wir in einem Jahr weiteres Wachstum sehen und spannende neue Technologien an den Markt bringen. 

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Foto (oben): Scandit

Alexander Hüsing

Alexander Hüsing, Chefredakteur von deutsche-startups.de, arbeitet seit 1996 als Journalist. Während des New Economy-Booms volontierte er beim Branchendienst kressreport. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit jungen, aufstrebenden Internet-Start-ups. 2007 startete er deutsche-startups.de.