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IT-Fachkräftemangel: Diversity als Chance

Der Fachkräftemangel existiert in der oft propagierten Form nicht, Bewerber:innen sind in ausreichender Anzahl am Markt vorhanden, wenn man die Suche anpasst. Der ideale Bewerber muss nicht immer männlich, deutscher Herkunft und bereit zu acht Stunden Arbeit am Tag sein. Ein Gastbeitrag von
IT-Fachkräftemangel: Diversity als Chance
Donnerstag, 4. August 2022VonTeam

Seit einiger Zeit schon leiden deutsche Unternehmen unter einem Mangel an Fachkräften. Insbesondere technisches Personal ist heiß begehrt und schwer für das eigene Unternehmen zu finden. Laut einer bitkom-Umfrage blieben alleine in 2021 ca. 96.000 Fachstellen in der deutschen Gesamtwirtschaft unbesetzt. Startups leiden besonders an der aktuellen Lage: Sie benötigen schnell das notwendige Know-How, um ihre Ideen umzusetzen und um weiter zu wachsen. Bieten können sie potenziellen Bewerber:innen einiges. Dennoch bevorzugen viele Fachkräfte größere Unternehmen, da sie mutmaßlich mehr Sicherheit bieten. Die Folge: Ganze 90 Prozent der Startups beklagen offene Stellen, die sich nicht auf die Schnelle besetzen lassen, ergab eine Umfrage des Bundesverbands Deutsche Startups. 

Ein baldiges Ende der Lage ist nicht in Sicht. Wie also können Unternehmen dringend benötigtes Fachpersonal engagieren und halten? Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung stellt Diversity dar: Trotz eines gewachsenen Bewusstseins für das Thema Diversität setzen Unternehmen egal welcher Größe meist immer noch auf männliche, vorwiegend deutschsprachige Programmierer , die in Vollzeit arbeiten können.

Andere Personengruppen werden auf diese Weise schon im Vorhinein ausgeschlossen und von den Vorgaben abgeschreckt. Wie kann man hier gegensteuern und wie helfen Diversity-Konzepte, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken? Linn Salles, Head of People Relations beim deutschen Cloudanbieter gridscale, geht im folgenden Fachbeitrag näher auf diese Fragen ein.

Nine-to-Five im Büro? Schnee von gestern

Home Office und flexible Arbeitszeiten als Teil der Unternehmensidentität? Was in der Corona-Pandemie als das neue Normal angepriesen wurde, hat sich danach nicht etablieren können. Viele Unternehmen erwarten von ihren Mitarbeiter:innen weiterhin Präsenz, nicht am heimischen Schreibtisch sondern im Büro. Darüber hinaus ist das klassische Modell von 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr zu arbeiten, immer noch weit verbreitet.

Startups stehen hier vor einer besonderen Herausforderung: sie müssen mit ihrem Budget noch stärker haushalten als etablierte Unternehmen. Gleichzeitig sind sie darauf angewiesen, erste Projekte schnell zu realisieren, um sich im Markt zu festigen. Dies resultiert in einem, verglichen mit etablierten Unternehmen, 7 Prozent höheren Arbeitspensum bei gleichzeitig 10 Prozent schlechterer Bezahlung.

Insbesondere starre Arbeitszeiten und ein hohes Arbeitspensum stellen für viele Menschen eine Herausforderung dar: Acht Stunden am Schreibtisch zu sitzen lässt wenig Raum für alleinerziehende Personen. Ihnen fehlt oft die Möglichkeit, ihre Kinder in diesem Umfang betreuen zu lassen, vor allem der Mangel an Kita-Plätzen verschlechtert die Lage. Und Kinder neun Stunden am Tag fremdbetreuen zu lassen kann schließlich auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Startups und Unternehmen sollten deswegen ihre Strategie umdenken, auch wenn es gerade am Anfang zu Reibungen kommen könnte. 

Flexible Arbeitsmodelle ermöglichen

Die Covid19-Pandemie hat gezeigt, dass auch andere Arbeitsmodelle möglich sind und diese sowohl Arbeitgeber:innen als auch Arbeitnehmer:innen Vorteile bringen. Vielen Befürchtungen zum Trotz arbeiteten Mitarbeiter:innen von zuhause aus entweder gleich effizient oder sogar effizienter als bei regulären Modellen. Zudem konnten Mitarbeiter:innen, die nun von zuhause aus arbeiteten, ihre eigene Zeit besser nutzen, da der Hin- und Rückweg von der Arbeit entfiel. Somit blieb ihnen mehr Freiraum, sich der Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen zu widmen.

Home Office ist ein Punkt, in dem Unternehmen und Startups ihren Mitarbeiter:innen entgegenkommen können. Ein weiterer ist die Arbeitszeit an sich: 

Viele Menschen wollen nicht mehr die üblichen 38 bis 45 Stunden in der Woche arbeiten – sie verbringen die Zeit lieber mit Familie, Freunden und Hobbies. Dafür sind sie bereit, am Ende des Monats weniger Geld zu erhalten. Laut Bertelsmann-Umfrage wollen 41 Prozent der Frauen und 50 Prozent der Männer, die zur Zeit in Vollzeit beschäftigt sind, weniger arbeiten.

Allerdings existiert auch der umgekehrte Fall: Mütter wünschen sich oft, nach der Geburt sofort wieder in den Beruf einsteigen zu können. Fehlende Kita-Plätze hindern sie allerdings häufig daran.

Um möglichst viele Bewerber:innen anzusprechen, sollten Startups und klassische Unternehmen flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen. Dazu zählen Teilzeitmodelle, aber auch die Möglichkeit, schnell wieder auf Vollzeit aufzustocken. Sind die Möglichkeiten erst einmal geschaffen, sollten sie in Ausschreibungen klar erwähnt werden, um Bewerber:innen gezielt  anzusprechen.

Frauen in Tech-Berufen ansprechen

Immer mehr Frauen sind heute in männlich dominierten Bereichen ausgebildet. Jobbeschreibungen, egal ob online auf Social-Media-Plattformen, Jobportalen oder in Printmedien, sprechen allerdings noch vorrangig männliche Bewerber an, meist unbewusst. So gelten bestimmte Worte als eher männlich konnotiert, andere gelten als eher dem weiblichen Geschlecht zugehörig. Vor allem Attribute, die Hardskills in Jobprofilen beschreiben, sprechen laut Umfragen der TU München eher Männer als Frauen an. Begriffe wie eigenständig, selbstständig, zielorientiert, direkt, bestimmt usw. sind eher männlich konnotiert, zu den weiblichen Attributen gehören committed bzw. engagiert, zuverlässig und ehrlich. Startups haben oft ein feineres Gespür dafür, die richtige Sprache in ihren Ausschreibungen zu verwenden. Jedoch gibt es auch hier Verbesserungspotenzial, das die Anzahl potenzieller Bewerber:innen erhöhen kann.

Ausländische Fachkräfte ansprechen

Wir leben in einer immer weiter vernetzten und globalisierten Welt und das Internet hat einen entscheidenden Teil dazu beigetragen. 

Dies bietet vor allem jungen Unternehmen und Startups die Möglichkeit, vakante Stellen mit ausländischem Fachpersonal zu füllen. Entscheidungsträger:innen sollten hierbei auch Nicht-Muttersprachler:innen ansprechen, indem sie Jobbeschreibungen auf englisch inserieren und innerhalb ihrer Organisation zumindest teilweise auf englisch kommunizieren, sobald Menschen Teil des Teams sind, die über keine oder wenige Deutschkenntnisse verfügen.

Dies wirkt nicht nur dem Fachkräftemangel entgegen: Menschen aus anderen Kulturkreisen und Ländern bringen oft andere Blickwinkel, Denkweisen und Erfahrungen mit ins Team, die der Zusammenarbeit und letztendlich dem Produkt echte Mehrwerte bieten. 

Inklusion von Menschen mit Behinderungen

Beeinträchtigte Menschen verfügen nicht nur über die gleichen Fähigkeiten wie diejenigen ohne Behinderung: Durch die Herausforderungen, die sich ihnen im Alltag entgegenstellen, haben sie oftmals eigene Herangehensweisen für komplexe Probleme entwickelt, die Mitarbeitende ohne Beeinträchtigung vor schier unlösbare Probleme stellen würden. Diese lösungsorientierte “Hands-on”-Mentalität ist für Teams ein unschätzbarer Vorteil. Zudem weisen Menschen mit Behinderungen in vielen Fällen eine hohe Arbeitsmoral auf, die aus dem Wunsch resultiert, sich im Vergleich zu Kolleg:innen ohne Behinderung zu beweisen.

Unternehmen und Startups sollten deshalb bei der Bewerbersuche darauf achten, auch Menschen mit Behinderung zu inkludieren – nicht nur bei Inseraten sondern auch in der alltäglichen Arbeit.

Dies fängt bei scheinbar profanen Dingen wie einem rollstuhlgerechten Büro an und lässt sich mit spezieller Hard- und Software für Hör- und sehbehinderte Menschen fortführen. Auch neurodivergente Personen, Autisten oder Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit etwa, können in vielen Bereichen die gleiche oder sogar bessere Arbeit abliefern – sofern Arbeitgeber:innen eine gerechte und inklusive Umgebung für sie schaffen.  

Fazit

Der Fachkräftemangel existiert in der oft propagierten Form nicht, Bewerber:innen sind in ausreichender Anzahl am Markt vorhanden, wenn man die Suche anpasst. Der ideale Bewerber muss nicht immer männlich, deutscher Herkunft und bereit zu acht Stunden Arbeit am Tag sein. Unternehmen und Startups sollten ihre Suchkriterien anpassen, um möglichst viele Menschen anzusprechen.

Mitarbeiter:innen sind heute nicht mehr bereit, sich zu 100 Prozent an den Job anzupassen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich der Arbeitgeber an seine Mitarbeiter:innen anpassen muss, um in der Zukunft Personal finden zu können. Neben flexiblen Arbeitszeiten und der Möglichkeit zur Arbeit von zuhause aus gehört dazu auch die Barrierefreiheit. 

Schließlich wird es in der Zukunft darauf ankommen, wie gut ein:e Mitarbeiter:in die Arbeit erledigt und nicht, ob sie im Büro acht Stunden unterbrechungsfrei am Schreibtisch sitzt oder deutsch auf muttersprachlichem Niveau spricht.

Über den Autor
Henrik Hasenkamp ist CEO von gridscale.

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Foto (oben): Shutterstock