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Was man aus der Arbeit in einem französischen Startup lernt

Mitarbeiter:innen deutscher sowie französischer Unternehmen erledigen ihre Aufgaben mit dem gleichen Ansatz, der in seiner Ausführung jedoch unterschiedlicher nicht sein könnte und trotzdem das gleiche Ergebnis erreicht. Ein Gastbeitrag von Focko Lowin.
Was man aus der Arbeit in einem französischen Startup lernt
Dienstag, 5. Juli 2022VonTeam

Nach seinem Start im letzten Jahr bei Jenji, einem 2015 gegründeten französischen Startup, das mittlerweile international tätig ist, zieht Focko Lowin, Head of DACH, Bilanz aus seinen Erfahrungen. Er reflektiert gängige Vorurteile und stellt sie in Kontrast zu in Deutschland häufig vorherrschenden Werten, Standards und Unternehmenskulturen. Dabei fallen ihm neben gänzlich falschen Annahmen, durchschnittlich 54 Liter Wein im Jahr und einer – für Deutsche – ungewohnten Gelassenheit im Arbeitsalltag auch Dinge auf, die man in hiesigen Unternehmen vergeblich sucht.

Eine kleine Bemerkung vorab: Die Erkenntnisse im folgenden Text basieren schlicht und einfach auf meinen persönlichen Erfahrungen. Ich pauschalisiere hier ganz bewusst weil ich denke, dass der Eine oder die Andere ein paar interessante Aspekte für sich und das eigene Unternehmen mitnehmen kann.

“Ich erledige das.” vs. “Ich kümmere mich drum.”

Lassen Sie mich mit einer einfachen Gegenüberstellung starten: Mitarbeiter:innen deutscher sowie französischer Unternehmen erledigen ihre Aufgaben mit dem gleichen Ansatz, der in seiner Ausführung jedoch unterschiedlicher nicht sein könnte und trotzdem das gleiche Ergebnis erreicht. Das mag zuerst etwas paradox klingen, ergibt im Detail jedoch umso mehr Sinn.

Die Deutschen übergeben Aufgaben gerne an externe Profis – was naheliegt, wenn intern nur wenig Erfahrung in dem Aufgabengebiet vorhanden ist. So versuchen deutsche Unternehmen sicherzustellen, stets ihren hohen Ansprüchen gerecht zu werden. Franzosen hingegen nehmen Aufgaben, vor allem in wachsenden oder mittelgroßen Unternehmen, grundsätzlich als Herausforderung an und erledigen diese selbst. Generell beobachte ich, dass Angestellte in Frankreich grundsätzlich experimentierfreudiger sind, als ihre deutschen Kolleg:innen. Interessant ist allerdings, dass beides zu den besten Ergebnissen führen kann, da deutsche Unternehmen eher auf altbewährte Rezepte setzen und diese bis zur Perfektion weiterentwickeln.

Die französische Can-do-Mentalität sorgt für einen weiteren Unterschied, der sich schon im Bewerbungsprozess zeigt. Wir gehen unsere Bewerbungen meist mit dem Gedanken an, was die potenzielle neue Arbeitsstelle für uns mitbringt. Ganz im Gegenteil dazu bewirbt man sich in Frankreich vor allem auf Stellen, bei denen man davon überzeugt ist, selbst am meisten einbringen zu können. Nachdem ich nun die Arbeitsprozesse mit den deutschen Prozessen vergleichen konnte, fiel mir noch eine weitere Besonderheit auf.

Ausdiskutieren oder direkt loslegen?

DACH-Unternehmen gehen nach dem Briefing bevorzugt direkt in die Umsetzung. Ein Vorurteil, dass den Deutschen gegenüber den Franzosen gerne zugeschrieben wird, ist die Sichtweise auf deren alltägliche Gelassenheit. Und meiner Beobachtung nach, ist dieses Vorurteil sogar wahr – jedoch nur zum Teil. Franzosen lieben es zu debattieren und so kreativ die Welt zu verändern. Das treibt auch die dortige Startup-Kultur mit an. Aber auch wenn eine längere Debatte zu einer manchmal späteren Umsetzung führt, ist es besser als während der Umsetzung noch einmal zu diskutieren und im schlimmsten Fall die bisherige Arbeit verwerfen zu müssen. Das hat natürlich einen gewissen Einfluss auf die Arbeitsgeschwindigkeit, vermittelt aber auch ein ganz besonderes Gefühl von “Savoir Vivre”. Eine sehr interessante Erkenntnis, die ich dadurch jedoch gewonnen habe ist, dass meine französischen Kolleg:innen manchmal erst zur Deadline hin richtig Vollgas geben – das mag aber mehr der mittleren Unternehmensgröße geschuldet sein, da hier wirklich jede/-r mit anpackt, um das Wachstum des Unternehmens zu sichern. Die deutsche Arbeitsweise, die mich die Dinge am liebsten sofort erledigen lässt und dafür zur Deadline hin für Entspannung sorgt, steht dann oft in Kontrast. Die eigentlichen Herangehensweisen sind letztendlich jedoch nur invertiert, was sich bspw. auch im ‘Quarterly Closing’ – dem vierteljährlichen Reporting des eigenen Vertriebs – zeigt. Meine Kolleg:innen arbeiten hier rund um die Uhr, zumindest fühlt es sich so an. Ich versuche hingegen alles bis zu zwei Wochen vor Quartalsende erledigt zu haben. Die Kunst, das Leben sowie jeden einzelnen Moment zu genießen, beobachte ich im Arbeitsalltag aber auch an einer anderen signifikanten Stelle, die im Kontrast zu DACH-Unternehmen steht: Nämlich jedes Mal, wenn es um Erfolge geht.

Den Moment feiern oder direkt darauf aufbauen?

Wir Deutschen verfolgen, im Gegensatz zu meinen französischen Kolleg:innen, bei Vertragsabschlüssen jeglicher Art eher einen Sicherheitsgedanken. Besonders klar wird mir das meistens, wenn ich über abgeschlossene Vertriebserfolge spreche. Meine französischen Kolleg:innen würden in solchen Momenten am Liebsten den Erfolg feiern und die Freude darüber teilen. Ich beschäftige mich gedanklich eher sofort damit, wie ich den momentanen Erfolg festigen und somit langfristig ein Polster für Sicherheit aufbauen kann.

Gleichzeitig muss ich einem oft genannten Vorurteil über Frankreich widersprechen. Es ist vollkommen falsch zu glauben, dass französische Arbeitnehmer:innen den Genuss des Lebens der Arbeit vorziehen. Ganz im Gegenteil: Ich beobachte in meinem Arbeitsumfeld härtere, fokussiertere und ausdauernde Arbeitsmethoden als jene, die ich in meiner vorherigen Berufserfahrung gesehen habe. Das kann man natürlich nicht komplett pauschalisieren. Was für mich jedoch feststeht ist die höhere Differenz zwischen gesetzlicher und tatsächlicher Arbeitszeit in Frankreich. Denn auch wenn gesetzlich “nur” 35 Stunden für eine Vollzeitstelle vorgegeben sind, arbeiten die Menschen deutlich mehr.

Überstunden – und das ist wieder eine Beobachtung, die mich mit meinen deutschen Werten und Annahmen überrascht hat – finden meine Kolleg:innen fast schon toll. Das mag aber auch an dem Spaß und der Geselligkeit liegen, die man in Frankreich auch im Arbeitsumfeld erlebt. Während in Deutschland oft auf eine strikte Trennung von Arbeitsleben und Privatleben geachtet wird, entsteht in französischen Startups ein Gefühl des absoluten Zusammenhalts. Beispielsweise sitzen in Frankreich immer alle zu Mittag zusammen und tauschen sich aus, selbst wenn der Tisch eigentlich zu klein ist. In Deutschland neigen die Angestellten eher dazu, ihre Pausen zu individualisieren. Soviel zu den Beobachtungen von “innen”. Nun aber eine Feststellung, die ich zum Außenbild der Mitarbeiter:innen eines französischen Startups machen konnte.

Das Risiko eines Startups ist das Risiko aller Mitarbeiter:innen

Die Mitarbeit in einem Startup genießt in Frankreich einen sehr hohen soziokulturellen Stellenwert. Freunde, Familie und Co. sehen die Arbeit durchaus als Risiko an, schätzen das Wagnis jedoch enorm. Schließlich riskiert ein/e jede/r Mitarbeiter:in gemeinsam mit den Kollegen viel und arbeitet sehr hart, um das Risiko in Erfolg zu verwandeln. Der/Die Deutsche neigt hingegen zu einem eher verklärten Blick auf die Startup-Szene und deutet die Mitarbeit in Startups vor allem vor dem Hintergrund von Freiheit, Selbstverwirklichung oder einer neuen Arbeitskultur mit neuen Werten.

Ein weiteres Vorurteil, das zu deutschen und französischen Startups oft fällt ist, dass die Arbeit in einem Startup chaotisch und ohne wirklichen Plan verläuft. Das ist natürlich für beide Nationalitäten falsch. Bemerkenswert ist allerdings, dass viele französische Startups im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants fast schon militärisch durchorganisiert sind. Davon können sich die – zumindest dem Vorurteil nach – strukturierten Deutschen noch gut etwas abschauen. Zuletzt möchte ich einmal komplett weg vom Arbeitsleben und noch ein paar Gedanken zur Freizeitgestaltung machen.

Von Vorurteilen und Gemeinsamkeiten

In vielen Stories meiner Freund:innen habe ich gehört, wie schwierig die Verständigung in Frankreich fällt. Umso mehr war ich nach meinen ersten Gesprächen mit Kolleg:innen überrascht, dass Franzosen, entgegen der landläufigen Meinung, sehr gut Englisch und sogar viele weitere Fremdsprachen sprechen. Gerade in der französischen Startup-Kultur ist ein häufig multiethnischer Hintergrund der Treiber und dadurch entsteht auch zwangsläufig eine multilinguale Unternehmenskultur. Meine Annahme ist, dass Franzosen und Französinnen oft sogar hervorragend der englischen Sprache mächtig sind, gelegentlich aber einfach wenig Lust haben, die englische Sprache zu sprechen.

Was favorisierte Lebensmittel angeht, sind wir uns sehr ähnlich. Kohlenhydrate finden sich hier in Brot und kleinen Süßspeisen genauso viele, wie auf deutschen Tellern, die bevorzugt mit Nudeln und Kuchen gefüllt sind. Den durchschnittlichen Alkoholkonsum tilgen die Deutschen mit Bier (im Schnitt ca. 102 Liter im Jahr), Franzosen und Französinnen bevorzugen hingegen Wein (54 Liter im Jahr). Die Wirkung dürfte jeweils ähnlich sein. Interessant ist auch, dass französische Bürger:innen in der Tat gerne einen guten “Fromage” essen. Der Durchschnitt landet bei stolzen 26 Kilogramm im Jahr. Aber auch das haben wir gemeinsam, da die Deutschen im Schnitt auf 24,5 Kilogramm im Jahr kommen. Letztendlich habe ich noch eine Beobachtung beim Konsum- sowie Einkaufsverhalten machen können. In Frankreich kaufen nur wenige Personen auf Vorrat ein. Hier gilt eher der Vorsatz, dass man nur nach Bedarf und dann aber unmittelbar kauft. Wie wir Deutschen stellenweise mit Angeboten und Einkäufen umgehen, brauche ich an dieser Stelle, denke ich, nicht zu reflektieren.

Fazit: Voneinander lernen, um miteinander zu arbeiten

Der Einstieg und die Herausforderung mit deutschen Werten und Vorstellungen in einem französischen Startup zu arbeiten, hat mir anfangs etwas Sorge bereitet. Doch die Angst vor Problemen verflog schnell, als ich merkte, dass der Respekt für Erfahrungen und Werte eines/-r jeden Einzelnen in Frankreich genauso zählt, wie auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In den letzten Monaten habe ich, genauso wie mein Unternehmen, einiges zu Arbeitsabläufen und für das Leben gelernt. Vor Allem aber, dass die gemeinsame Arbeit nur funktioniert, wenn beide Parteien gleichermaßen die Moral und die Maßstäbe des/-r jeweils anderen reflektieren und adaptieren – aber dieser Ansatz gilt ja nicht nur für das Arbeitsleben, oder?

Über den Autor
Focko Lowin, Head of DACH bei Jenji, ist für das kommerzielle Wachstum des Unternehmens in der DACH Region verantwortlich. Jenji wurde 2015 als Startup gegründet und ist mittlerweile ein international tätiges Unternehmen. Seine vorherige berufliche Stationen umfassen u.a. diverse deutsche Telekommunikationsunternehmen sowie zuletzt 3,5 Jahre bei dem deutschen Remote Connectivity SaaS Unternehmen TeamViewer.

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Foto (oben): Shutterstock