#Gastbeitrag

Die Digitalisierung erfordert ein Umdenken alter Geschäftsmodelle

Jedes Jahr ermöglichen es uns neue Technologien, neue Produkte zu erfinden oder Prozesse zu optimieren. Für Unternehmen wird es immer schwieriger, ihr Geschäftsmodell mit einer klassischen wirtschaftlichen Denkweise aufrechtzuerhalten. Ein Gastbeitrag von Uve Samuels.
Die Digitalisierung erfordert ein Umdenken alter Geschäftsmodelle
Freitag, 24. Juni 2022VonTeam

Geht es Dir nicht manchmal genauso? Wenn die eigenen Kinder mit dem Smartphone vor Dir stehen, und Funktionalitäten erklären deren Existenz Du bis dato noch nicht einmal kanntest? Weil für Dich das Smartphone noch immer zur Hälfte ein Phone zu sein scheint? Weil Du es eigentlich noch immer nicht begreifen kannst, dass Du einen Super-Computer in der Hosentasche mit Dir führst – weil die Handyhalter am Gürtel jetzt wirklich keiner mehr trägt? Hast Du dann nicht das Gefühl, dass Du regelrecht überrannt wirst vom technischen Fortschritt? Die Lebenszyklen in der Entwicklung technischer Lösungen werden immer kürzer. 

Jedes Jahr ermöglichen es uns neue Technologien, neue Produkte zu erfinden, neue Dienstleistungen zu entwickeln, Prozesse zu optimieren oder sogar miteinander zu interagieren. Für Unternehmen wird es immer schwieriger, ihr Geschäftsmodell mit einer klassischen wirtschaftlichen Denkweise aufrechtzuerhalten. Die sich rasch verändernden Umgebungen und die sich ebenso schnell entwickelnden Möglichkeiten müssen sich auch in der Kultur und in der Organisation selbst widerspiegeln. 

Der Schlüssel für lange Zeit erfolgreiche Unternehmen war und ist, dass sie sich schnell anpassen und auf ein sich veränderndes Umfeld reagieren können. Diese schnelle Anpassung an neue Bereiche und Geschäfte wird immer wichtiger, um in dieser neuen digitalisierten Welt zu “überleben”. Die exponentiellen Technologietrends beschleunigen den Markt und damit auch die Notwendigkeit der Anpassung, Um in jedem einzelnen Bereich überleben zu können, bedarf es einer neuen Denkweise, die den ständigen Paradigmenwechsel im Unternehmen widerspiegelt. Eine exponentielle Marktumgebung erfordert neue Sichtweisen – wir müssen also mit den alten Silos brechen.

„Fail forward“ oder „Trial & Error“ sind die neuen Attituden – und in den USA bereits längst gelebte Realität. In Deutschland haben wir immer noch keinen Zugang zu diesem Mindset, da wir das Scheitern automatisch mit Insolvenz gleichsetzen. Der Ansatz ist aber anders: Auf der Basis von Prototypen und agil gemangten Produkten werden ständige Optimierungen des Produktes aufgrund von Kundenfeedback angestrebt. 

Exponential Mindset als Credo

Salim Ismail ist Hauptrepräsentant der Singularity University und als deren treibende Kraft wissenschaftlicher und kommunikativer Mittelpunkt einer Weltanschauung, die das Silicon Valley eint: 

Das Credo an das Potential des exponentiellen Wachstums wird in die ganze Welt ausgesendet, um neue Jünger zu begeistern, zu vereinnahmen und letztlich zu neuen Botschaftern der Weltsicht der skalierenden Geschäftsmodelle zu machen. Gemeinsam mit seinen Co-Autoren macht sich Salim Ismail in seinem Buch “Exponential Organizations” daran, das Thema der Skalierung von Geschäftsmodellen systematisch unter dem Gesichtspunkt der geeigneten Organisationsform für solche Geschäftsmodelle zu beleuchten. Er definiert zunächst exponentielle Organisationen, indem er deren Merkmale und Aspekte beschreibt.

Gut ist, dass er diese Definition nicht auf den Bereich rein digitaler Geschäftsmodelle beschränkt. Anscheinend spornen ihn also etwas andere Themen an als die Adrenalin-Junkies, die nach DER einen Idee und Umsetzung suchen, mit der sich die ganze Welt aus den Angeln heben lässt. Salim Ismail zeigt sich überzeugt, dass auch ein Unternehmen mit “normalen” (traditionellen) Geschäftsmodellen durch den systematischen Einsatz planbarer Methoden in eine völlig neue, zukunftsfähige exponentielle Organisation verwandelt werden kann.

Die Digitalisierung wäre nicht möglich gewesen ohne das exponentielle Wachstum digitaler Leistungsfähigkeit. „Moore’s Law“ beschreibt das Phänomen, dass sich die Anzahl der Transistoren auf einem Computerchip seit 1970 etwa alle zwei Jahre verdoppelt hat. Die gewaltige Rechenkraft, die uns heute zur Verfügung steht – viel millionenfach größer als 1970 –, hat Anwendungen wie Big Data und Künstliche Intelligenz im großen Maßstab erst möglich gemacht. 

Erfolg wird in der Start-up-Szene im Silicon Valley und mittlerweile weltweit daran festgemacht, dass möglichst früh exponentielles Wachstum gezeigt werden kann. Dabei ist es für die Gründer zunächst zweitrangig, ob sie bereits Umsatz- und Gewinnzahlen oder nur Nutzerzahlen, Leads oder Klicks in einem stark ansteigenden Graphen dokumentieren können. Die Annahmen beruhen darauf, dass es mit sogenannten disruptiven Geschäftsmodellen in der digitalen Welt gelingt, hohe Wachstumsraten mit geringen Grenzkosten zu erzielen. Disruptiv müssen die neuen Geschäftsmodelle sein, weil sie eine bestehende Nachfrage auf ihr Angebot umlenken bzw. eine neue Nachfrage erzeugen können müssen. Das digitale Umfeld erlaubt ein solches Wachstum bei niedrigen Kosten, weil die Akquisition neuer Kunden deutlich günstiger ist als in der „analogen“ Welt.

Was sind exponentielle Geschäftsmodelle?

Exponentielle Geschäftsmodelle sind disruptiv und damit Auslöser einer neuen Zeitrechnung in der Digitalisierung. Sie entstehen durch das Zusammenspiel agiler Methoden und modernster Technologien in Verbindung von interdisziplinärer Wissenschaft und branchenintegrierter Wirtschaft. Aufgrund ihres exponentiellen Charakters wachsen sie mit immer höherer Geschwindigkeit und zerstören klassisch – lineare Strukturen und Geschäftsmodelle. 

Disruption geschieht, wenn bestehende Strukturen von neuen Technologien abgelöst und völlig überflüssig werden. Ein Beispiel aus der Welt der Musik: Es gab den Entwicklungssprung von der Schallplatte zur CD. Er war enorm – und doch nur eine lineare Fortsetzung des Bestehenden. Durch die MP3 und das Streaming geschah die Disruption. Musik kommt per Datentransfer direkt auf mein Endgerät, also brauche ich keinen physischen Tonträger mehr. Plötzlich sind die Fabriken, die CDs herstellen überflüssig, die LKWs, die sie transportieren, die analogen Läden, in denen sie verkauft wurden.

Das Gleiche lässt sich im Bereich Videocontent beobachten. Das klassische Kino leidet wo Netflix von einem Erfolg zum nächsten eilt. Denken wir einfach mal an unser privates Digitalisierungslevel: Wer liest heute noch trockene Gebrauchsanweisungen oder Bauanleitungen? Warum auch, wenn es doch nur ein paar Klicks entfernt, YouTube und andere Social Media Plattformen gibt, die darauf spezialisiert sind, uns genau das zu geben wonach wir suchen (meist noch auf unterhaltsame Weise) – von der Bastelanleitung bis hin zum Erklärvideo zum Aufbau des neusten IKEA Schrankes.

Unternehmen (bzw. dessen Channels) wie TheSoul Publishing, eines der global führenden Contentstudios, wachsen exponentiell, weil sie sich genau auf diese Bedürfnisse eingestellt haben. Sie haben verstanden, dass sich die Anforderungen aufgrund der neuen digitalen Formate geändert haben und Infotainment mehr gefragt ist denn je. Das zeigt sich auch durch deren Followerzahlen von über einer Milliarde Menschen auf den verschiedenen Channels – von Facebook über Instagram, bis hin zu TikTok, YouTube, Pinterest und Snap.

Eine kürzlich durchgeführt Studie des Unternehmens zeigt dabei deutlich, wohin der Trend geht. “Wir haben festgestellt, dass sich die Menschen neue Fähigkeiten fast ausschließlich im Internet aneignen”, sagt Patrik Wilkens, VP of Operations bei TheSoul Publishing. “Die persönliche Wissensvermittlung von Generation zu Generation, zum Beispiel die Weitergabe des Apfelkuchenrezepts durch die Oma, stirbt aus. Der Bericht zeigt, dass fast zwei Drittel der Menschen heute neue Fähigkeiten auf YouTube erlernen. Eltern und Großeltern können da nicht mehr mithalten. Nur 13 % der Befragten verlassen sich auf ihre Kenntnisse”. 

Doch selbst in dieser bereits transformierten Welt zeigt sich schon der nächste Wandel. YouTube ist zwar der Vorreiter, wenn es darum geht Fertigkeiten zu erlernen, doch schon über ein Drittel der jüngeren Generation (16- bis 24-Jährigen) nutzt dazu TikTok und 35% der Menschen – unabhängig vom Alter – sehen in dieser Plattform den Player, der in Zukunft den Markt dominieren wird.  

Durch die digitale Transformation sind in fast jedem Lebensbereich ähnliche Veränderungen zu erwarten, die durch eine Entmaterialisierung ins Digitale stattfinden. Denn es gibt Innovationsführer, die systematisch daran arbeiten. Die Disruption passiert nicht zufällig, sondern ist Folge eines gezielten und methodischen Vorgehens von Menschen, die danach suchen. 

Bildung ist der entscheidende Trigger zur Exponentialität

Das Bildungswesen spielt da eine ganz entscheidende Rolle. Unsere Mentalität hat bisher verhindert, dass innovatives Denken in unser Bildungssystem integriert wurde und politisch gefördert wird. Dadurch, dass wir nicht in Parametern der Zukunft denken, kommt unsere Imagination nicht über die Gegenwart hinaus, die wir grundsätzlich für perfekt halten. Das ist der Denkfehler, der unsere Kreativität killt und unsere Möglichkeiten beschränkt! Schon Einstein empfahl: Denke 20 Prozent deiner Zeit anders als alle anderen. Statt die 5G-Technologie von anderen zu kaufen, hätten wir beschließen können, die anderen zu überflügeln und in Deutschland ein „6G“ oder „7G“ zu entwickeln. Solche Visionen hat jedoch niemand bei uns, weshalb unsere besten Vordenker ins Silicon Valley und nach Asien abwandern.

In den USA gibt es zwei Orte, die Bildung neu definiert haben – das MIT und die Stanford University als Treiber des Silicon Valley. Ihr innovatives Denken war der Magnet, der Investoren anzog, die mit den Absolventen Start-ups gründeten. Denn diese Leute lernen in interdisziplinären Projekten „Design-Thinking“ und können damit völlig neue Produkte entwickeln. Alle Herausforderungen unserer Welt sind schließlich interdisziplinär, nicht wahr? Deshalb macht es Sinn, wenn Experten verschiedener Bereiche zusammenarbeiten und dabei agile Methoden nutzen. So können sie im ständigen Austausch mit den Usern von deren Bedürfnissen lernen. Im Silicon Valley sagt auch niemand einfach „Nein!“, wenn jemand behauptet, dass 2+2=5 ist. Sie würden stattdessen erforschen, unter welchen Umständen das zutrifft. Sie versuchen Gesetzmäßigkeiten und Muster jenseits des Altbekannten zu entdecken. Zudem haben sie herausgefunden, wie man exponentiell wachsende Geschäftsmodelle konzipiert. Denn dafür gibt es bestimmte Voraussetzungen. 

Mit Hilfe von fünf entscheidenden Kriterien könnten wir auch in Deutschland exponentielles Wachstum erzeugen. Wenn unsere Konzerne diese Ideen anwenden würden, wäre das der erste Schritt hin zum Zeitgeist. Sie haben eine viel stärkere Ausgangsposition als die Start-ups in den USA und könnten noch mehr Erfolg erzielen.

Fünf Kriterien für Exponentielle Innovation

  1. Der erste Faktor ist „Purpose for greater good“. Wir müssen mit der Mission antreten, die Welt und die Gesellschaft zu verbessern. Sollte dies nicht der Fall sein, werden wir lediglich linearen Erfolg erleben, aber kein exponentielles Wachstum.
  2. Der zweite Faktor heißt „agile Methoden“. Wir müssen uns freimachen von allen hergebrachten Abläufen und wirklich dem Kunden dienen, statt dem Chef. (Also das Gegenteil von hierarchischem Denken.) 
  3. Drittens entscheidet „Open Innovation“. Das heißt, wir müssen unser Business vernetzen und eine Plattform werden, mit der andere zusammenarbeiten wollen. Dies wird möglich, wenn du deine Ideen offenlegst und damit Weiterentwicklung anstößt.’
  4. Viertens zählt Entrepreneurship. Wir müssen neue Märkte erobern und angreifen wollen, die es vorher nicht gab. Dazu braucht es entschlossenes Voranstreben, welches man übrigens lernen kann. 
  5. Fünftens brauchen wir disruptive Technologien als Pfeiler des Erfolgs. Das heißt, Expertise in Künstlicher Intelligenz (KI), Blockchain, Internet of Things, Virtual Reality, 3D-Druck oder Robotik. Sobald diese fünf Elemente ineinandergreifen, wird exponentielles Wachstum möglich.

Die neue Maxime: Disruption!

Traditionelle Geschäftsmodelle, die über Jahrzehnte erfolgreich waren, werden von innovativen, disruptiven Geschäftsmodellen abgelöst. Das Silicon Valley ist Meister im Erkennen von Schwächen in den Geschäftsmodellen etablierter Unternehmen und trägt, wenn es angegriffen hat, meistens auch den Sieg davon. Exponentielle Geschäftsmodelle haben die Eigenschaft, dass sie lange Zeit unterschätzt werden. Wenn die erst flache Entwicklung den exponentiellen Kick bekommt, geht es jedoch schnell. 

Die Auswirkungen sind dann ebenfalls größer, als man sich das vorher vorstellen konnte. Für die Etablierten ist es dann aber zu spät. Die Reaktionszeit, um alternative Kompetenzen aufzubauen und ebenfalls Geschäftsmodelle zu entwickeln, ist zu kurz. Jedes Unternehmen – egal ob Start-up oder alt-eingesessen – sollte sich daher damit beschäftigen, ob es disruptive Ansätze zum eigenen Geschäftsmodell gibt und frühzeitig neue Kompetenzen aufbauen.

Über den Autor
Uve Samuels ist Experte für exponentielle Innovationen und Geschäftsmodelle, Autor des Buches „Exponentielle Innovation“ und CEO des EXPONENTIAL INNOVATION INSTITUTE.

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Foto (oben): Shutterstock