Sebastian Hoop, CTO bei CollectAIdigitale-leute.de
Dieses Interview erschien zuerst auf unserem neuen Magazin digitale-leute.de. Dort schauen wir mit einer neuen, frischen Perspektive auf die deutsche Digitalszene.
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Hallo Sebastian, was ist deine Aufgabe bei CollectAI?
Bei CollectAI bin ich als Chief Technology Officer dafür verantwortlich, dem Unternehmen das notwendige Maß an Struktur rund um die Produktentwicklung zu verpassen. Das ist hier gerade noch wie in einem typischen Startup: Die Leute sind sehr engagiert, aber es gibt noch wenig Struktur. Ich versuche im richtigen Maß Tools und Abläufe einzuführen, und gleichzeitig die Mannschaft in Bezug auf die Technologie und das Produkt auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Dazu haben wir zum Beispiel gerade eine Architektur-Vision entwickelt.
Und wie das so ist, wenn man eine Muttergesellschaft hat, müssen wir auch ein wenig auf die Compliance-Richtlinien achtgeben.
Wie lange bist du schon bei CollectAI?
Ich habe vor acht Wochen bei CollectAI angefangen und bin eigentlich völlig branchenfremd. Die letzten sieben Jahre war ich bei der Telekom-Tochter Emetriq CTO und habe mich da hauptsächlich um die Automatisierung des Online-Marketings gekümmert. Beide Unternehmen verbindet das Thema Artificial Intelligence und die transaktionalen Geschäftsmodelle. Dennoch gibt es einen spürbaren Unterschied. Bei CollectAI wird man sofort eingesogen. Das Rad dreht sich hier sehr schnell.
In welcher Phase befindet sich CollectAI gerade?
Wir sind gerade in einer Übergangsphase. Wir befinden uns hier in den Räumlichkeiten des Company-Builders “Liquid Labs.” Liquid Labs gehört zu Otto und hat schon 2015 mit den ersten Entwicklungen für unser Geschäftsmodell begonnen. Die Firmenausgründung von CollectAI war im April 2016 und das offizielle “Go” im Mai. Otto kümmerte sich um die Finanzierung und unterstützt uns bei Themen wie HR, Recht und Datenschutz.
Jetzt suchen wir Mitarbeiter im technischen Bereich; Softwareentwickler, Data Scientists, Data Engineers, aber auch in den Bereichen HR, Marketing und Sales. Wir suchen gerade nach neuen Räumlichkeiten im Zentrum von Hamburg, damit wir weiter wachsen können.
Kannst du einmal erklären, was ihr eigentlich macht?
Unser Ziel ist die Disruption der Inkassobranche. Diese Branche hat in den letzten Jahren an den hohen Inkassogebühren sehr gut verdient. Bei einer Fünf-Euro-Forderung kann nach der Rechtsanwaltsgebührentabelle rund 58 Euro Inkassogebühren zuzüglich Auslagen berechnet werden. Nun befindet sich die Branche in einer strategischen Krise und sitzt auf wenig automatisierten Prozessen. Die Inkasso-Portfolien schmelzen dahin, und die Händler versuchen, viel weiter vorne in der Wertschöpfungskette Zahlungsausfall zu verhindern.
Hier setzen wir mit unserem Geschäftsmodell an und steigen viel früher in die Wertschöpfungskette ein. Damit übernehmen wir letztlich die Kundenbeziehung. Unsere Mission ist die Kundenbeziehung, die Rückzahlungsquoten und Kosten in Einklang zu bringen. Wir bieten ein automatisiertes Mahnwesen und eine automatisierte Inkassoabwicklung an. Unsere Taktik ist Automatisierung, künstliche Intelligenz, eine individualisierte Kommunikation mit den Verbrauchern und ein schlankes Geschäftsmodell. Die uralte Inkassobranche fährt noch immer den One-size-fits-all-Ansatz und kommt sehr justiziabel rüber. Das wollen wir anders machen.
Wie denn?
Wir gehen auf die Bedürfnisse der Verbraucher ein, die wir nicht als Schuldner, sondern als Kunden sehen. Wir schauen uns jeden Kunden an und fragen uns, in welcher Situation er sich gerade befinden muss. Wir entwickeln dann eine individuelle Strategie, damit er im besten Fall den vollen Betrag zahlt.
Dafür nutzen wir Machine-Learning-Verfahren wie zum Beispiel das Reinforcement-Learning und setzen damit auf das Thema Automatisierung durch KI im Kern. Das Verhalten der Verbraucher gibt uns darüber Aufschluss, welche individuelle Kommunikationsstrategie die für diesen Fall erfolgversprechendste ist. Und das alles in hohem Grade automatisiert.
Und hier komme ich ins Spiel, denn die Online-Marketing-Branche, in der ich in den letzten sieben Jahren gearbeitet habe, ist bereits hochgradig automatisiert und setzt Machine-Learning-Verfahren ein.
Wie genau willst du das schaffen?
Aktuell habe ich die ersten Monate der Einarbeitungsphase hinter mir. Zunächst habe ich mich darauf konzentriert zuzuhören und die Zusammenhänge zu verstehen. Darum spreche ich viel mit Leuten und versuche mir klar zu machen, wie wir arbeiten müssen. Ich bin weniger der Mensch, der strikte Regeln aufstellt. Ich versuche Arbeitsprinzipien zu vermitteln, denn ich glaube an Selbstorganisation.
Ich erkläre den Sinn einer Sache, anstatt Lösungen vorzugeben.
Wie sind deine Teams organisiert?
Wir haben drei Teams. Zwei davon nutzen Scrum. Das Team Hilbert, benannt nach einem bekannten Mathematiker, nutzt Scrumban. Jedes Team hat seinen Aufgabenbereich. Das habe ich eingeführt, um die Zuständigkeiten ein wenig zu entwirren. Das Team Fantastic Four kümmert sich um das Thema Consumer-Journey. Das reicht von der Kommunikation bis hin zum Payment. Team Hilbert betreut die Recommendation-Engines und die Kommunikations- und Eskalationsstrategie. Team ByteMe kümmert sich um den Core, darunter fallen zum Beispiel die Datenschnittstellen.
Grundsätzlich arbeiten wir agil. Das war auch schon so, als ich hier anfing. Die Teams nutzten eine Mischung aus Roadmunk, Confluence und GitHub/Zenhub. Sämtliche Stories haben wir als GitHub issues abgebildet, und die Planungsschicht darüber machen wir jetzt über ZenHub. Das ist ein Add-on für GitHub, welches die Product Owner für die Sprint-Planung nutzen. Confluence nutzen wir jetzt verstärkt, zur Dokumentation. Vorher war das eine Mischung aus Google Docs und Texten in GitHub.
Als Passwortmanager nutzte bisher jeder, was er für richtig hielt. Jetzt ist das mehr und mehr Dashlane, weil man damit Passworte gut sharen, aber auch die Rechte einschränken kann. Und Google Docs ist hier ein häufig genutztes Tool, weil die Sharing-Funktionen sehr gut sind. Dokumente, die datenschutzrelevant sind, schieben wir in Box. Und dann nutzen wir mittlerweile auch Slack.
Welche Tools nutzt du persönlich?
Ich nutze den To-do-Manager Remember The Milk. Der ist Wunderlist ähnlich, aber ein bisschen mächtiger. Die Job-Descriptions stelle ich in Workable ein. Damit kann man den ganzen Recruiting-Workflow abbilden.
Welche Tools nutzt ihr in der Entwicklung?
Da ein Großteil der Anwendung in Node.js programmiert ist, nutzen wir natürlich JavaScript und diverse Frameworks aus dem Node-Ökosystem. Die App liegt momentan noch auf Heroku, wird aber demnächst auf Amazon Webservices migriert.
Es arbeiten also hauptsächlich JavaScript-Entwickler bei Collect AI?
Ja, bis auf das KI-Team, das vornehmlich mit Python entwickelt. Wir haben mal eine kleine Umfrage im Team gemacht und herausgefunden, dass wir technologisch viel breiter aufgestellt sind. Für mich ist das gut zu wissen, denn es könnte sein, dass wir mit Node und JavaScript an Grenzen stoßen, was die Skalierung angeht.
Bitte erläutere an einem Projekt, wie ihr arbeitet.
Wie jedes Startup balancieren wir zwischen geplanten Features und Kundenanforderungen. Grundlage für unsere Entwicklungsplanung ist eine grobe Sechs-Monats-Roadmap. Ein gutes Beispiel für unsere Arbeitsweise ist die Implementierung unserer “Sofort-Überweisung”-Lösung auf Basis der Figo Banking API. Kurz zur Erklärung: Auf unseren Landingpages haben Kunden die Möglichkeit die fälligen Rechnungen direkt zu bezahlen. Paypal, Kreditkarte und Lastschrift würden wir gerne bald integrieren. Aber das ist ein dickes Brett, das man Bohren muss. Zahlungsanbieter wollen eher weniger etwas mit der Inkasso-, Porno- oder Glücksspiel-Branche zu tun haben. Aus der Ecke wollen wir aber raus. Vor uns liegt also noch ein ganzes Stück Überzeugungsarbeit.
Zahlungsanbieter wollen eher weniger etwas mit der Inkasso-, Porno- oder Glücksspiel-Branche zu tun haben.
Auf Basis der Roadmap fängt der jeweilige Product Owner an, die kommenden Themen konzeptionell vorzubereiten. Der spricht sich auch mit dem zuständigen Accountmanager ab, der die Anforderungen des Kunden kennt. Der PO definiert den notwendigen Scope für ein MVP und schreibt die Stories mit den Akzeptanzkriterien. Er definiert nicht den Lösungsweg, das macht das Softwareteam.
Das klingt dogmatisch, ist aber wichtig, weil es da unterschiedliche Verantwortlichkeiten gibt. Danach werden die Anforderungen in Tickets übertragen. Das mache ich zur Zeit oder auch der PO selbst.
Ihr habt keinen Scrum-Master?
Im Moment noch nicht. Dass wir bislang keine Scrum-Master hatten, liegt an der Philosophie des Company Builders Liquid Labs. Dieser lässt frühzeitig in den Projekten sehr eigenmotiviert und selbstorganisiert arbeiten. Das ist erstaunlich und habe ich so auch noch nicht erlebt. Ein Thema, das im nächsten Jahr wichtig werden wird.
Wann fangt ihr an ein Feature zu programmieren?
Zunächst erstellen wir einen MVP. An diesem MVP werden dann die Funktionen Stück für Stück eingebaut. Die Scope eines Features definiert hier der PO. Langfristig liegt im richtigen Scoping der Erfolg oder auch Misserfolg eines Startups. Fehlen Hygiene-Features oder erfüllen wir die Marktanforderungen nicht, bauen wir Goldrand-Lösungen und verlieren den Anschluss. Wir orientieren uns hier am Kano-Model.
Mit welchen Tests arbeitet ihr?
Wir haben klassische Unit-Tests und automatisierte Integrationstests. Das User-Acceptance-Testing ist ein manueller Prozess und wird durch die POs vorgenommen. Vor meiner Zeit hat man das UI Testing mit Selenium gemacht, dies aber wegen des hohen Wartungsaufwands der Test-Cases gelassen. Ich verfolge für 2017 eine andere Strategie. Ich möchte das Thema User-Acceptance-Testing auf minimum reduzieren und stärker auf Consumer Driven Contract Testing an den Service-Schnittstellen setzen. Für den verbleibenden Rest an UI-Testing kann ich mir einen Crowd-Testing-Ansatz vorstellen.
Was sind im Moment wichtige Themen und Trends in der Produktentwicklung?
Ich glaube, es gibt ein großes Missverständnis in der Produktentwicklung. Aus dem Silicon Valley schallt ein ständiges Konzeptdröhnen, was den Product Ownern auf dieser Seite des Atlantiks zu so etwas wie autarke Mini-CEOs im Unternehm machen möchte, die sich selbst verwirklichen können. Aber das ist ein sehr unscharfes Bild, eine fabulisierte Sicht auf eine ganz wichtige Rolle. Jeder, der sich in Deutschland dazu entscheidet Product Owner zu werden, muss wissen, dass das eher nicht so ist und ein Produkt-Owner vor allem ein Stakeholder-Manager ist und die Ansprüche des Marktes durch gutes Scoping und Priorisierung in ein Viable-Produkt verwandelt.
Gleichzeitig sehe ich eine Modernisierung der Führungskräfte. Es geht mehr und mehr darum Führungskräften eine unterstützende Rolle zuzuschreiben, die Spielräume statt Grenzen zeigt. Das nehme ich als positiven Trend war.
Gibt es etwas, was in deinem Job immer wieder falsch gemacht wird?
Ich glaube, das die meisten CTOs zu schnell auf die neuesten Technologien und Innovationen springen. Dazu kommt, dass der CTO dann auch noch der Wissendste im Bezug auf Technologie und Architektur sein will. Das skaliert ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Ein CTO, der auch die nächsten Phasen mitmachen will, muss sich tunlichst davon lösen und deutlich schlauere Leute einstellen.
Ich suche Mitarbeiter, die klüger sind als ich.
Bitte erläutere uns deinen Werdegang. Wann hast du dein Abi gemacht?
Das war 1998, damals noch in 13 Jahren.
Wie ging es nach dem Abi weiter?
Nach dem Abi habe ich erst mal ein halbes Jahr das Leben genossen. Ursprünglich hatte ich den Plan Medizin zu studieren und hatte mich auf einen Studienplatz beworben, musste aber ein Semester abwarten. Um Geld zu verdienen, habe ich angefangen mein Hobby zum Beruf zu machen und zu programmieren. Das war während der Internet-Hype-Zeit. Und ich bin kleben geblieben. Das war eine verrückte Zeit, die mich derart in den Bann gezogen hat, dass ich das mit der Medizin gelassen habe.
In dieser Zeit habe ich dann meinen Kompagnon kennengelernt, mit dem ich eine eigene Web-Entwicklungsfirma aufgebaut habe. Als die Internetblase platzte, haben wir leider viele Leute entlassen. Wir haben dann noch einmal bei Null angefangen und uns auf die Entwicklung von Produkten im Bereich Retargeting und Adserving konzentriert. Das war sehr erfolgreich und der Anfang meiner Karriere.
Welche Technologien hast du damals verwendet?
Das war Java, PHP, JavaScript und .Net, die ich mir alle selbst beigebracht habe. Damals hatte ich schon das Gefühl, das mir die Grundlagen eines Studiums schon geholfen hätten. Mein Unternehmen wurden dann auch von Neuhaus Partners mit einem Millionenbetrag gefundet. 2006 habe ich dann meine Anteile verkauft und war als freiberuflicher Berater unterwegs, unter anderem in Karlsruhe bei der 1&1 und bin dann 2009 zu Xplosion Interactive, heute Emetriq gekommen. Da war ich sieben Jahre der CTO und brauchte nun einmal einen Tapetenwechsel.
Was inspiriert dich?
Kluge Leute inspirieren mich extrem, Leute, die engagiert sind. Das ist etwas, was an mir zieht, was mich mitzieht.
Gibt es Bücher oder Blogs, die du empfehlen kannst?
Ich lese sehr gerne den Blog von Martin Fowler oder den von Werner Vogels, dem CTO von Amazon. Beide sprechen über Trends, die schon etwas abgehangener sind, die businesstauglich sind.
Was den Produktentwicklungsbereich angeht, lese ich sehr gerne produktbezogen.de oder Roman Pichler. Pichler schafft es dieses Dröhnen aus den USA, das überzogene Rollenbild der Product Owner und der Produktentwicklung in ein businessfähiges Modell zu kleiden. Er ist kein Dogmatiker, sondern ein Pragmatiker. Und darum mögen ihn auch viele.
Vielen Dank für das Interview.
Webseite: CollectAI
Das Interview wurde am 28. November 2016 in den Räumlichkeiten von CollectAI in Hamburg gehalten.