#Gastbeitrag

Was Gründer:innen aus dem wirtschaftlichen Abschwung für 2023 lernen

Wegen guter Aussichten auf üppige Finanzierungsrunden konnten viele Startups in den letzten Jahren “über ihre Verhältnisse leben”. Durch den aktuellen Abschwung hat sich die Marktlage geändert und Startups müssen neue Wege gehen. Ein Gastbeitrag von Jean Michel Diaz.
Was Gründer:innen aus dem wirtschaftlichen Abschwung für 2023 lernen
Donnerstag, 19. Januar 2023VonTeam

Wir beobachteten es schon zu Anfang unserer Vertriebsaktivitäten 2019: Unsere Zielgruppe möchte keinen Vertriebs-Termin buchen, sondern unser SaaS-Tool einfach ausprobieren. Ein ähnliches Muster ergab sich beim Upselling innerhalb der Unternehmen. Entweder unser Angebot begeisterte Nutzer:innen und sprach sich im Unternehmen von selbst herum. Oder eben nicht. Im zweiten Fall gestalteten sich unsere Bemühungen, weitere Nutzer:innen in den Unternehmen zu gewinnen, entsprechend schwierig.

Um uns “ausprobierbar” zu machen, hätten wir eine “Freemium” oder “Free Trial”-Strategie fahren und unser Produkt dafür neu denken müssen. Das schien uns sehr aufwändig und unsicher. Also machten wir fleißig weiter Sales-Termine und stellten unser Tool in Videocalls vor. Nach unserer ersten Finanzierungsrunde (unter anderem das Flaschenpost-Management investierte) stockten wir sogar drei Positionen im Growth.Team auf. Unser Ziel blieb, die kurzfristigen Umsatzziele zu erreichen.

Im Frühjahr 2022 fingen wir an, unsere nächste Finanzierungsrunde vorzubereiten. Parallel startete die russische Militäroperation in der Ukraine. Schon nach einigen VC-Gesprächen wurde klar, dass VCs jetzt deutlich kritischer auf die Unit Economics schauen. Das Fazit: Mit einem kostspieligen, manuellen Vertriebsmodell und einem durchschnittlichen “Annual Contract Value” von unter 10k € würden wir keinen VC zu den angestrebten Konditionen überzeugen können.

Unser Runway reichte zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis noch nicht mal mehr für 12 Monate – was also nun?

Was tun, wenn die Finanzierung ausbleibt?

Schnell wurde uns im Gründerteam klar, dass wir unter den Bedingungen einer ausbleibenden Finanzierungsrunde nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Um aus eigenen Rücklagen und Umsätzen zu überleben, brauchten wir ein neues Setup – mit weniger Ressourcen im Sales und einem effizienten Go-To-Market.

Am Ende war es genau diese Krise, die uns den Mut gegeben hat, sich endlich für die schwierigere, aber dafür nachhaltige Wachstumsstrategie zu entscheiden: Inbound-Marketing und Product-Led Growth (PLG), eine Go-To-Market-Strategie, bei der die Akquisition, Expansion, Konvertierung und Bindung von Kunden in erster Linie durch das Produkt selbst gesteuert wird.

Es war die schmerzhafteste Erfahrung in unserer Gründer-Laufbahn, aber wir mussten die frisch eingestellten Mitarbeiter:innen (teilweise noch in der Probezeit) wieder entlassen. Um trotzdem weiter wachsen zu können, mussten wir umdenken und unser Produkt zu einem Wachstumshebel umbauen, der auch ohne Vertriebsteam auskommt. Ein Weg, der alles andere als vorhersehbar oder risikofrei ist, aber welcher Weg ist das im Startup-Kontext schon?

Mutige Schritte zahlen sich aus

Wir gingen also den in Deutschland eher unkonventionellen Schritt, unser Produkt direkt über unsere Website kostenlos testbar zu machen. Der Effekt war unerwartet und doch erwartbar: Wir konnten etwa 3 mal so viele Website-Besucher:innen zu einem Test konvertieren. Vor unserem Pivot zu PLG war unser Ziel auf der Website stets, dass die Besucher:innen eine “Online-Demo buchen”. Eine Handlung, die für viele Besucher:innen unserer Website unattraktiv war. Unser Produkt wiederum selber ausprobieren zu können war deutlich interessanter.

Experimente im Onboarding-Prozess wurden schnell der neue Fokus im Team. Über zahlreiche AB-Tests lernten wir, welche “Wow-Momente” für die Nutzer:innen entscheidend waren. Das Ergebnis: Wir steigerten unsere wöchentlich aktiven Nutzer binnen weniger Monate um etwa 80%.

Gleichzeitig konnten wir uns im Growth Team voll auf den Ausbau unserer Websiteinhalte und SEO fokussieren, um unsere Zielgruppe nun global zu erreichen. Anfänglich waren es gerade einmal 1.5%, inzwischen sind es mehr als 10% der Website-Besucher:innen, die unser Tool ausprobieren.

Und siehe da: Der erste Kunde in Vietnam wird gewonnen, Fortune 500 Unternehmen aus den USA starten den Einkaufsprozess – ganz ohne den aufwändigen Vertriebsprozess auf unserer Seite.

Auch intern in unserem Team hat sich die neue Strategie als Gewinn herausgestellt: Das Produkt- und das Growth-Team arbeiten durch PLG deutlich enger und ganzheitlicher an der Optimierung des Freemium-Funnels.

Ist “Product-Led Growth” die Lösung?

Ist PLG ohne Vertriebsteam jetzt die Lösung für jedes SaaS-Startup? Sehr wahrscheinlich nicht. Ist es eine Option, die sich gerade Startups im SMB-Segment anschauen sollen? Definitiv ja. Es ist kein Zufall, dass viele Branchen-Insider (wie auch der VC OpenView) in PLG den “größten Trend im Software-Bereich” sehen.

Bei uns ist der Pivot zur PLG-Strategie allerdings noch lange nicht abgeschlossen. Es bleibt zu beweisen, dass wir im Rahmen des Freemium-Modells ein gesundes Verhältnis von kostenlosen zu zahlenden Nutzer:innen erreichen können. Wir sind jedoch durch unseren neuen Go-To-Market Ansatz zuversichtlicher denn je, unseren Break-even nächstes Jahr zu erreichen und dann eine enorm gute Basis für das weitere Wachstum zu haben.

Der wirtschaftliche Abschwung ist also eine gute Chance für strategische Entscheidungen. Oder wie Winston Churchill sagte: “Never let a good crisis go to waste”.

Über den Autor
Jean Michel Diaz ist Co-Founder und Geschäftsführer von Echometer.

Startup-Jobs: Auf der Suche nach einer neuen Herausforderung? In der unserer Jobbörse findet Ihr Stellenanzeigen von Startups und Unternehmen.

Foto (oben): Shutterstock