Von Team
Mittwoch, 18. März 2015

“Die Ratio von Versuch zu Erfolg ist im besten Fall 1 zu 10”

"Um zehn große Unternehmen zu produzieren, musst Du wahrscheinlich hundert Startups starten. Die Ratio von Versuch zu Erfolg ist im besten Fall 1:10", sagt der gebürtige Schweizer, Wahlberliner und Business Angel Christophe Maire. Im Interview sinniert er unter anderem über die Berliner Gründerszene.

Der gebürtige Schweizer und Wahlberliner Christophe Maire ist im Auftrag der Zukunft unterwegs. Im Interview präsentiert sich der Serien-Investor als feinfühliger und aufmerksamer Analytiker, der seine Impulse präzise artikuliert. Wir treffen ihn an einem sonnigen Herbsttag, um über Innovationen, schadhaften Lobbyismus und die Berliner Gründerszene zu sinnieren.

Kannst Du Deine Mission erläutern?
Ich möchte dabei helfen, Firmen zu kreieren. Von Berlin aus. Und so versuche ich, gute Themen zu identifizieren und involviere mich in immer mehr Firmen. Denn ich empfinde diese Zeiten als besonders und fruchtbar – und deswegen empfinde ich es auch als eine Art Verpflichtung, aktiv zu werden. In Zeiten, wo Dinge gestaltet werden, muss man versuchen, ein Teil davon zu sein.

Wie siehst Du Berlin im europäischen Vergleich?
Mehr und mehr als den spannendsten Standort, um Innovation zu treiben. Mindestens so spannend, wie die anderen großen Ökosysteme. Und unsere große Chance ist, dass die talentiertesten Leute aus ganz Europa gerne hierher kommen. Wir sind die einzige Metropole, wo Technologie bzw. Innovation im weitesten Sinne die einzige relevante Industrie ist. Es gibt hier keine industriellen Strukturen. Auch nicht im Servicebereich. Und das schafft Platz für Ideen. Und das schafft auch Platz für das Ökosystem, das in den letzten fünf Jahren einfach von selbst entstanden ist. Und in Berlin wird in den kommenden zehn Jahren mehr entstehen als in den letzten zwanzig. Denn jetzt ist erst die Infrastruktur vorhanden.

Das gibt dem Ökosystem wahrscheinlich auch eine andere Wichtigkeit als in den anderen Hubs?
Es ist nicht nur das. Es geht auch um den Wettbewerb um Talent. Also in London beispielsweise können Programmierer viel mehr verdienen, wenn sie in einer Bank arbeiten. Ein Ökosystem lebt davon, dass eine minimale Dichte entsteht. Und dass ein Austausch entsteht. In San Francisco geht es nur um Technologie. Und in Berlin inzwischen auch. Und die anderen vorhandenen Themen wie Kunst und Mode sind ja synergetisch.

Und würdest Du erwarten, dass große Unternehmen, z.B. die DAX-Konzerne, nun auch nach Berlin kommen?
Ich denke vielmehr, dass sie künftig hier entstehen werden. Es gibt heute in Berlin fünf oder sechs Firmen, die es vor fünf Jahren noch nicht gab und die heute über eine Milliarde Euro wert sind. Von daher erwarte ich, dass sich dieser Trend fortsetzt und in den kommenden zehn Jahren mindestens zehn große Firmen hier entstehen werden. Aber um zehn große Unternehmen zu produzieren, musst Du wahrscheinlich hundert Startups starten. Die Ratio von Versuch zu Erfolg ist im besten Fall 1:10.

Welche anderen Ökosysteme würdest Du mit Berlin vergleichen?
Berlin ist heute da, wo New York vor vier Jahren war. Das heißt, wir sind ein „Emerging Ecosystem“ – wir sind noch nicht so weit.

Jetzt unternimmt die Politik ja einige Anstrengungen, um die Startup-Hubs der Welt zu verbinden. Auf Seiten Berlins konzentriert man sich insbesondere auf New York und Tel Aviv. Ist dies ein begrüßenswerter Trend?
Das passiert ja schon lange. Mindestens ein Drittel meiner Firmen hat ein Office in New York. Aber dass die Politik erkennt, welche Wichtigkeit die Innovationsindustrie haben kann, das ist überfällig. Zeitgleich ist die Qualität der Unternehmen, die heute gegründet wird, ist stark gestiegen.

Wir schreiben heute ein Jahr nach der McKinsey-Studie. Was ist seither passiert und warum brauchte es überhaupt eine derartige Studie, um einen „Hallo-wach“-Effekt in der Politik zu erzeugen?
Meiner Meinung nach braucht es keine Studie, um zu verstehen, dass die Digitalisierung der Gesellschaft im Gange ist und dass es eine Opportunität gibt, diese mitzugestalten, statt mitgestaltet zu werden. Die Zeichen sind ja schon lange da. Und jetzt kommen die ersten großen Firmen, die daraus entstanden sind und die auf diesem neuen Boden gewachsen sind. Meiner Meinung nach hat Europa insgesamt jahrelang geschlafen. Man hat die Digitalisierung der Gesellschaft immer als ein exotisches Phänomen betrachtet. Aber heute ist es so, dass die Digitalisierung so weit fortgeschritten ist, dass eine Industrie nach der anderen verändert wird. Und auch Industrien, die damit direkt nichts zu tun haben, z.B. Agrikultur, Bauwesen, Wohnen, Hotels … nenne mir doch eine Industrie, die nicht maßgeblich verändert wird von der Digitalisierung. Und diese Innovation findet an bestimmten Standorten statt. Und dort findet auch ein Teil der Wertschöpfung statt. Und dass man es nicht als Priorität definiert, dass dies hier stattfindet, ist kaum denkbar.
Ein Innovations-Ökosystem ist eine fragile Angelegenheit. Deswegen kann ich nicht entscheiden, dass ich jetzt in einer Kleinstadt ein Innovations-Ökosystem launche. Das ist kein Top-Down-Phänomen. Dazu braucht es ein gewisses Umfeld. Und das Beste, was man dann machen kann, ist, es wohlwollend zu unterstützen.

Wowereit hat im Zuge der McKinsey-Studie gesagt, dass Berlin die Chance hat, weltweit zu den Top-5-Ökosystemen zu gehören und in Europa die Nummer eins zu werden.
Ja, auf jeden Fall.

Ist die Umsetzungsgeschwindigkeit der Stadt angemessen um dem Potenzial der Digitalszene ausreichend zu begegnen?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe einfach zu wenige Berührungspunkte. Die meisten Ventures haben ein Leben in der Stadt. Sie ernähren die Stadt. Es entsteht eine Menge an Wertschöpfung. Aber die Berührungspunkte mit der Politik sind überschaubar.

Was kann denn die Politik tun?
Das Minimum ist es, die richtigen Signale zu setzen. Die Firmen werden ja nicht von Städten gegründet oder finanziert. Es geht eher darum, Raum zu schaffen und wohlwollend zu agieren. So wie Michael Bloomberg (2002 bis 2013 Bürgermeister von New York City) das gemacht hat. Einfach, weil er es auch verstanden hat. Und das ist natürlich ein langfristiges Projekt.

McKinsey hatte einen 100-Millionen-Euro-Fonds vorgeschlagen. Macht so etwas Sinn?
Das macht auf jeden Fall Sinn. Aber wir brauchen fünf oder sechs davon. Und damit verbunden steht die Frage, wer dieses Geld einsetzt. Staatliche Fonds haben keinen guten „Track Record“. Aber im Verhältnis zu anderen Standorten gibt es weiterhin ein großes Gap. Im Vergleich mit Israel ist dies beispielsweise Faktor 20. Und natürlich haben israelische Unternehmen dann Erfolg. Denn Erfolg ist natürlich daran gekoppelt, wie oft man es probiert. Man muss (in Berlin) einfach zehnmal mehr kämpfen. Und es ist natürlich bedenklich, dass die meisten Gelder, die hier investiert werden, aus dem Ausland kommen. Das bedeutet, dass es im Erfolgsfall keine lokalen Rückkopplungseffekte gibt.

Das klingt etwas paradox, denn es gibt ja gerade starke Bemühungen, speziell Geld aus dem Ausland anzulocken. Fehlt es demnach in Deutschland an systematisch agierenden, industriellen Investoren?
Es gibt strukturelle Schwierigkeiten. Beispielsweise ist es Rentenfonds untersagt, in Deutschland zu investieren. Und das, obwohl hier die Wertschöpfung stattfindet. Aber das ist ein strukturelles Problem. Und muss korrigiert werden. Aber es gibt Initiativen, die dies adressieren.

Und trotzdem: Wenn man sich die großen US-Venture Capital Unternehmen anschaut, dann fehlt doch so etwas in Europa.
Klar. Aber das entsteht nicht von heute auf morgen. Die Israelis beispielsweise haben vor 15 Jahren begonnen, dies bewusst und in hohem Maße zu unterstützen. Und für mich ist es auch alternativlos. Man kann nicht anders, als die Innovation, die aus der Digitalisierung heraus entsteht, zu unterstützen. Einfach um sicherzustellen, dass es hier im Lande stattfindet. Und grundsätzlich haben wir in Deutschland beim Thema Folgefinanzierungen immer noch eine große Lücke. In London haben sich alleine im letzten Jahr acht große Fonds angesiedelt und hier sind mindestens so viele gute Firmen. Aber kein einziger Fonds. Das ist spürbar, mach aber andererseits die Firmen stärker.

Darf ich Dich in diesem Zusammenhang fragen, wie Du der gängigen Blockadepolitik beispielsweise im Fall „Uber“ gegenüberstehst? Ist sie symptomatisch für die Probleme, die wir in Deutschland haben, wenn es um Innovationen geht?
Tendenziell wird hierzulande eher der Anbieter als der Konsument geschützt. Dabei ist es ja klar, dass diese Innovationen einem Bedarf entspringen. „Uber“ steht auch für Neubeginn und Wandel in der Arbeit.

Mein Eindruck ist, dass es hierzulande zu wenig schlaue Köpfe gibt, die in der Lage sind, diese Zusammenhänge und den anstehenden Wandel überhaupt verständlich zu artikulieren. Man hat das Gefühl, dass die Erkenntnis – speziell bei der Politik – immer nur in homöopathischen Dosen reift. Und in diesem Kontext auch Fragwürdigkeiten wie die Digitale Agenda oder Günter Oettinger als EU-Kommissar für Digitalwirtschaft.
Die Grundproblematik ist doch: Die Zukunft hat noch keine Lobby. Die Einzigen, die heute laut schreien, sind Vertreter der bestehenden Industrie. Oder der vergangenen Industrie. Und keiner stimmt für die Firmen, die jetzt gerade entstehen. Und dafür muss man ein gewisses Verständnis aufbringen. Aber im Zweifelsfall sollte man immer der Innovation den Vorrang geben. Und es ist ja eine Chance, sich als Standort zu positionieren, an dem Innovation länger geduldet wird. Denn Innovationen brauchen Zeit, sich zu formen. Und darin liegt teilweise auch die Chance dieser Stadt, die ja eine freie, soziale, offene Stadt ist. Einfach in dem man zeigt, dass Innovationen sich hier wohl fühlen können. Es ist eine Opportunität, sich das noch deutlicher auf die Fahne zu schreiben. Ich selbst habe mich beispielsweise stärker in „Digital Health“ engagiert, einfach weil es eines der Zukunftsthemen ist. Hier kann Software viel bewegen. So bekommt man beispielsweise Transparenz über den eigenen Körper oder über Ärzte. Dadurch haben wir heutzutage die Chance, den Menschen die Hoheit über Ihre Daten zurückzugeben. Hierzulande wird das leider oft negativ interpretiert. Man hat hier eine große Datenangst. Aber wenn man mit früher vergleicht, wie groß der Zugang zu diesen Daten ist und wie viel man über den eigenen Körper erfährt, so liegt hier doch eine enorme Chance.

CHRISTOPHE MAIRE
Der gebürtige Schweizer und Wahlberliner Christophe Maire studierte Business & Administration an der Universität St. Gallen und gilt als einer der umtriebigsten Investoren Berlins. Seit seinem Exit von Gate5 an Nokia investiert er mit sicherem Händchen in Unternehmen wie Soundcloud, Monoqi, Plista, Barcoo oder EyeEm. www.atlanticinternet.de

Berlin Valley News @ deutsche-startups.de
Berlin Valley News ist das Monatsmagazin der Berliner Startupszene. Einmal im Monat präsentiert das Team von Berlin Valley News die wichtigsten Nachrichten, Trends, Finanzierungen und Hintergrundberichte aus der Berliner Gründerszene. Das Ziel des Magazins ist es, die Akteure der Szene vorzustellen. Berlin Valley News wird kostenlos vertrieben – auf Konferenzen, in Co-Working-Space und per Post. Hier die aktuelle Ausgabe runterlanden.