Gastbeitrag von Christian Landsberg

Relaunch: 5 ­Strategie-Tipps für etablierte Geschäftsmodelle

Webprojekte sind lebende Systeme. Das digitale Geschäftsmodell entwickelt sich kontinuierlich weiter und wächst zunehmend. Ein lean aufgesetztes Produkt wird mit fortschreitendem Alter immer komplexer, bis es an technologische Grenzen zu stoßen droht.
Relaunch: 5 ­Strategie-Tipps für etablierte Geschäftsmodelle
Mittwoch, 11. Mai 2016VonTeam

Digitale Produkte entwickeln sich kontinuierlich weiter. Was einmal lean angefangen hat, wird zunehmend komplexer und droht irgendwann an technologische Grenzen zu stoßen. Ein Relaunch wird notwendig. Die Herausforderungen und die Komplexität, die solche Relaunch-­Projekte mit sich bringen, werden meistens unterschätzt. Die Projekte dauern länger und werden teurer als geplant. In großen Unternehmen bringt die alleinige Einführung agiler Methoden nicht die gewünschte Geschwindigkeit zurück. Eine effiziente Relaunch-­Strategie verlangt nach einer radikalen Rückbesinnung auf Startup Strukturen.

Webprojekte sind lebende Systeme. Viele Personen bringen über die Zeit ihre Ideen ein. ­Das Contentteam möchte Bildergalerien und Videos einbinden. Marketing braucht neue Teaserflächen. Der Traffic von mobilen Endgeräten nimmt kontinuierlich zu, so dass ein Responsive Design entworfen wird. Neue Technologien ermöglichen das Filtern einer Ergebnisliste ohne Seitenreload. Kurzum, das digitale Geschäftsmodell entwickelt sich kontinuierlich weiter und wächst zunehmend. Ein lean aufgesetztes Produkt wird mit fortschreitendem Alter immer komplexer, bis es an technologische Grenzen zu stoßen droht. Die Leistungsfähigkeit der eingesetzten Technologie ist ausgeschöpft und das Produkt mit Features vollgestopft.

Um sich jedoch weiter gegen die Konkurrenz behaupten und weiter wachsen zu können, müssen kontinuierlich neue Features implementiert werden. Zu diesem Zeitpunkt ist eine Weiterentwicklung nur noch durch den Wechsel auf eine Substitutionstechnologie möglich. Im strategischen Innovationsmanagement wird dies als S­-Kurven­-Konzept bezeichnet.

Gleichzeitig sollte dieser Wechsel auch für eine Fokussierung der Produktfeatures genutzt werden.

Der notwendige Technologiewechsel, umgangssprachlich auch Relaunch genannt, bringt in einem etabliertem Unternehmen mit einem ausgereiften und über Jahre gewachsenen Geschäftsmodell zwei zentrale Herausforderungen hoher Komplexität mit sich:
* Die aktuellen Umsätze dürfen nicht gefährdet werden. Daher ist IT­-seitig der Wechsel zur neuen Technologie im laufenden Betrieb notwendig. Von Produktmanagement Seite müssen im neuen Produkt insbesondere die Erlösquellen, (Stamm­)kunden und Conversion Rates gesichert werden.
* Die große Anzahl an Stakeholdern, die ein großes Unternehmen naturgemäß mitbringt, führen zu langwierigen Entscheidungsprozessen. Nicht zuletzt die häufig gelebte Praxis vorrangig anhand von Managemententscheidungen aber gleichzeitig auch lean und kundenzentriert entwickeln zu wollen, erhöhen die Komplexität zusätzlich.

Das Resultat sind lang dauernde und damit teure Relaunch­-Projekte.

In der Regel versuchen Unternehmen heutzutage durch Einführung agiler Entwicklungsprozesse und (mehr oder weniger) selbstbestimmter Teams, gegenzusteuern und so die Komplexität effizient zu managen. Da dieses Vorgehen eher Symptom und weniger Ursachenbekämpfung ist, ist der Erfolg meist mäßig. Die Projektlaufzeit beträgt trotz “Agilität” eher Quartale, wenn nicht sogar Jahre.

Startups dagegen zeigen, dass ein digitales Geschäftsmodell durchaus innerhalb von 3­6 Monaten aufgebaut werden kann.

Wie also können vorhandene Unternehmensassets (Revenue­-Streams, Contents, Kundendaten, etc.) weiterhin genutzt und gleichzeitig der Abstimmungsaufwand radikal reduziert werden? ­Ein fünf Punkteplan verbindet das Beste aus beiden Welten zu einer effektiven Relaunch-­Strategie für etablierte Geschäftsmodelle:

1. Zunächst wird das Kerngeschäftsmodell, also der Revenue­Stream mit dem größten Umsatz, identifiziert. Für diesen Revenue­-Stream werden nun Userflow und relevante Touchpoints definiert. Dies bildet die Grundlage bei der Konzeption des MVP (Minimum Viable Product). ­ Sollte noch ein zweiter Revenue­-Stream einen relevanten Umsatzanteil besitzen, werden auch hier Userflow und Touchpoints definiert und im Konzept des MVP berücksichtigt.
2. Als nächstes werden die Kernassets, also die für den primären und gegebenenfalls sekundären Userflow notwendigen Daten, gekapselt. Bei digitalen Produkten handelt es sich häufig um Kundendaten sowie Contents (bzw. Inventory). Um flexibel auf diese Daten zuzugreifen und das Relaunch-­Produkt parallel zum existierenden Produkt aufbauen zu können, werden bidirektionale Schnittstellen für die zu kapselnden Daten entwickelt.
3. Organisatorisch muss das Relaunch­Team vollständig dediziert aufgestellt werden. Das Kernteam besteht aus einem Produktmanager, einem UX­/UI­Designer und 3­ bis 8 Entwicklern (je nach Produkt­-Umfang), deren Know­How sich über alle Ebenen des neuen Technologie­Stacks erstreckt. Zum erweiterten Team gehören außerdem ein Stakeholder, der den primären Revenue­Stream repräsentiert (und ggf. ein weiterer für den sekundären Revenue­-Stream) und ein Mitglied des Senior Managements, das unternehmensrelevante Businessentscheidungen treffen kann. So ist sichergestellt, dass das Team vollständig autak arbeiten kann.
4. Wichtigster Schritt ist die Entwicklung des neuen Produkts. Das heißt im Wesentlichen Programmierung des definierten MVP, sowie dessen Weiterentwicklung mittels Ergebnissen aus User­Tests. Dabei müssen drei Restriktionen eingehalten werden:
a. Das aktuelle primäre (bzw. auch sekundäre) Revenue-­Stream wird abgebildet.
b. Vorhandene Daten (Kernassets) werden verwendet. Der Zugriff, sowohl lesend als auch schreibend, erfolgt ausschließlich über die bereitgestellten Schnittstellen.
c. Mittels Lasttests wird überprüft, ob die neue Technologie dem Traffic, wie er auf dem aktuellen Produkt existiert, standhält.
Das MVP wird nun so lange anhand von Testergebnissen weiterentwickelt, bis die zentralen KPIs mindestens dem aktuellen Live­Produkt entsprechen.
5. Je nach Geschäftsmodell eignet sich eines der beiden Vorgehen für den Go­Live.
a. Bei umfangreichen jedoch wenig komplexen Produkten werden einzelne Seiten im bestehenden Produkt durch die entsprechenden neuen Seiten ersetzt. Dieses Vorgehen ermöglicht einen stückchenweisen Livegang. Vorteil: Nutzerfeedbacks/­insights können bereits gesammelt werden, während an anderen Teilen des neuen Produkts noch gearbeitet wird.
b. Handelt es sich um ein komplexes Produkt ist ein Setup ähnlich einem A/B­Test vorzuziehen. Zunächst wird ein kleiner Prozentsatz der User auf das neue Produkt umgeleitet, während der andere Teil der User noch das alte Produkt sieht. Vorteil: Die Performance altes Produkt gegen neues Produkt kann direkt miteinander verglichen werden.

Zum Schluss ein kurzer Blick auf die beiden größten Risiken:
Kostenseitig gibt es bei dieser Relaunch-­Strategie zwei große Treiber. Zum Einen die Personalkosten des dedizierten Teams ([Anzahl Teammitglieder: 7­12] x [Projektdauer: 3­6 Monate]); zum Anderen die einmaligen Entwicklungskosten der Schnittstellen. Wobei diese häufig bereits vorhanden sind, da sie z.B. für Apps genutzt werden. Damit ist das monetäre Risiko klar definiert.
Genau wie das monetäre Risiko beschränkt sich auch das Risiko der Unumkehrbarkeit. Es kann jederzeit durch Zurückersetzen auf die alten Seiten bzw. 100% Aussteuerung der alten Version wieder auf das ursprüngliche Produkt umgestellt werden kann. Die Daten sind jederzeit konsistent, da während des Relaunch­-Projekts ausschließlich über die bidirektionalen Schnittstellen kommuniziert wurde.

Zum Autor
Christian Landsberg hat für diverse Pure­online-Player als auch für klassische Offline-Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen Internet-Geschäftsmodelle aufgebaut und weiterentwickelt. Er hat über 10 Jahre Erfahrung im Online Produktmanagement und unterstützt als freiberuflicher Berater Unternehmen bei digitalen Transformationen.

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