Marcus Seidel im Porträt

“Ohne meinen Bruder wäre ich Maurer geworden”

Seit Marcus Seidels älterer Bruder ihn als Teenager mit dem Startup-Virus infizierte, ist der junge Unternehmer nicht mehr zu halten: Ein erfolgreiches Start-up jagt das nächste. Vierzehn-Stunden-Tage sind für den Rand-Berliner der Normalfall. Ein Glück, dass seine Frau ihm im Büro gegenübersitzt.
“Ohne meinen Bruder wäre ich Maurer geworden”
Mittwoch, 4. März 2015VonYvonne Ortmann

Ein typischer Marcus Seidel-Tag sieht so aus: Um fünf Uhr aufstehen, schnell raus mit dem Hund, ab ins Auto, um sechs Uhr im Berliner Büro sein. Abends um acht ist er dann wieder zu Hause – zu spät, um seinem Kind noch Gute Nacht zu sagen. Dafür müssen bisher die Wochenenden genügen. Damit das anders wird – Baby Nummer zwei ist gerade unterwegs – arbeitet Seidel momentan an den Themen Fokussierung und Staffelübergabe. Seiner Familie zuliebe will er kürzer treten, aber leicht fällt es ihm nicht. „Ich liebe es zu arbeiten“, sagt der 33-Jährige überzeugt. Grund daran zu zweifeln gibt es nicht: Seine Stimme klingt frisch, fröhlich und motiviert.

„Ohne meinen Bruder wäre ich wohl Maurer geworden.“

Seidel war in den vergangenen Jahren immer wieder in den Schlagzeilen, vor allem wegen seinen beiden erfolgreichen und angeblich ungeplanten Exits. Vor drei Jahren übernahm RTL sein Portal Gutscheine.de, 2014 kaufte das Entsorgungsunternehmen Zentek 50 Prozent der Firmenanteile von Seidels Gründung Entsorgung.de. Überhaupt hat es der in Marzahn-Hellersdorf aufgewachsene Seriengründer mit generischen Domains: Auch Brillen.de, Games.de und seit Kurzem Blumen.de sind oder waren seine Babys. „Ich habe zahlreiche Domains gekauft. Projektieren konnten wir längst nicht alle, aber wenn wir einen neuen Hype ausgemacht hatten oder Potentiale sahen wie zum Beispiel Gaming oder Coupons, sprangen wir auf.“

Dass der Berliner mit dem hochgegelten Blondschopf Startup-Gründer werden würde, war nicht von Anfang an klar: „Ohne meinen Bruder wäre ich wohl Maurer geworden.“, lacht er. Den ersten Berufswunsch Tierarzt gibt er auf, als er wegen schlechter Noten vom Gymnasium auf die Realschule wechselt. Dort schafft er den Abschluss mit Ach und Krach. Sein Vater schleppt ihn zum Arbeitsamt; nach dem Gespräch legt man ihm nahe, eine Maurerausbildung zu machen. Doch Seidel hat längst seinen sechs Jahre älteren Bruder (s. Bild) zum Vorbild, der das Finanzportal Wallstreet:online mit aufbaut und nebenbei ein Online-Auktionshaus entwickelt, das er später verkauft. Seidel ist klar: Das will er auch. Dafür drückt er sogar nochmal die Schulbank und macht sein Fachabitur, jetzt mit neuer Motivation.

Marcus&OliverSeidel

Mit seinem Bruder und drei Gesellschaftern gründet Seidel 1999 das Portal Expertenseite.de, eine Art frühes GuteFrage.net. Als blutjunger Anfänger ist er eher in der Praktikantenrolle: „Ich war der kleine Bruder, der ständig ungefragt seine Meinung kund tut.“ Trotzdem klappt es gut mit der Zusammenarbeit, so dass die beiden Brüder vier Jahre später gemeinsam das Affiliate-Netzwerk Adcell aufziehen. In ihrer Unterschiedlichkeit hätten sie sich gut ergänzt, findet Seidel. „Olli ist introvertiert, technisch begabt und wahnsinnig schlau. Ich selbst bin der Mann für Marketing und Vertrieb, kann mit Menschen.“

Für sein erstes eigenes Start-up lädt Seidel Schrott auf

Irgendwann reizt es ihn, auch mal etwas alleine auf die Beine zu stellen. Während seines Wirtschaftskommunikations-Studiums, das ihn „einfach nicht auslastet“, gründet Seidel das Unternehmen schrott.de, heute entsorgung.de. Es ist bis heute das Start-up, in dem das meiste Herzblut steckt: „Schrottentsorgung war eine Nische, an die keiner geglaubt hat. Ich bin am Anfang selbst mit dem LKW herumgefahren, habe im Winter Schrott aufgeladen und davon Arthrose bekommen. Das vergisst man nicht.“ Die Bachelorarbeit reißt er an zwei Wochenenden herunter. Den Master schenkt er sich in Absprache mit seinem Dozenten, der ihm rät, sich lieber auf seine Unternehmen zu fokussieren.

Marcus Seidel und Schrott.deTeam_2007

Später schiebt Seidel auch eine Zeit bei Rocket Internet ein. Wie viele andere Talente wird er direkt von einem der Samwer-Brüder angeworben und beißt an. Doch schnell macht sich Enttäuschung breit, Seidel fühlt sich betrogen in Bezug auf Absprachen, die Chefs sind für ihn nicht mehr erreichbar. Nach einem halben Jahr schmeißt er hin, die Trennung geschieht nicht im Guten. Trotzdem ist Seidel dankbar für die Zeit und das, was er an Erfahrungen mitgenommen hat. „Ich profitiere noch immer vom klasse Netzwerk, das die Samwers aufgebaut haben. Auch Schnelligkeit und Skalieren lernt man bei Rocket Internet.“

„Viele Unternehmen scheitern am Ego der Gründer.“

Er selbst will einen anderen Weg mit seinen Unternehmungen gehen. Solide und nachhaltig sollen sie sein, die zwei Firmenverkäufe seien einfach so passiert. Auch die menschliche Seite ist ihm wichtig. Wer in einem seiner Start-ups anfängt, müsse nicht unbedingt mit Internet und der Startup-Welt vertraut sein. Viel wichtiger sei die richtige Arbeitseinstellung und Umgänglichkeit. „Wir bringen Bürokauffrauen und Menschen, die das falsche studiert haben, das Internet bei“, lacht er. „Jeder, der Bock hat, kann bei uns mitspielen.“

Den Maßstab, umgänglich zu sein, legt Seidel auch an sich selbst an. „Viele Unternehmen scheitern am Ego der Gründer“, sagt er. „Sein Ego sollte man öfter hinten anstellen können und etwas demütiger sein – ich schlucke meines jeden morgen um 5:20 Uhr zum ersten Mal runter, wenn ich für meinen Hund beim Gassi gehen die Scheiße wegsammele.“ Für Seidel heißt das in Bezug aufs Gründersein: Er will keine Nebenschauplätze eröffnen, indem er offene Streits mit Partnern oder Kunden austrägt, Gerichtsverhandlungen führe er aus Prinzip nicht. Innerhalb seiner Unternehmen versucht er, ein offenes und transparentes Klima zu schaffen, sitzt selbst mitten im Büro um für alle ansprechbar zu sein. Am meisten beschäftigt ihn immer wieder die Frage nach Personal: Wie erkennt man gute Leute und wie hält man sie? „Es ist für mich eine persönliche Niederlage, wenn ich eine Kündigung auf dem Tisch habe und im Gespräch merke, das hätte man verhindern können.“

„Bei gutscheine.de darf ich auch mal alle Register ziehen.“

Er selbst ist aktuell am meisten für die Unternehmen Gutscheine.de, Entsorgung.de und Adcell tätig. Dass er Geschäftsführer eines Start-ups ist, das er bereits verkauft hat, findet er toll. „Der Exit von Gutscheine.de bringt mich in puncto Management auf eine neue Stufe. Bei meinen eigenen Unternehmen bin ich der kleine Krämer, der jeden Euro umdreht. Bei Gutscheine.de darf ich auch mal alle Register ziehen.“

Und so ist der quirlige Seriengründer weiterhin in seinem Lichtenberger Büro anzutreffen. Seine Frau, die er bei diesem Arbeitspensum natürlich übers Internet kennengelernt hat, sitzt ihm als seine persönliche Assistenz gegenüber und sorgt mit dafür, dass der Laden läuft. Im Gegensatz zu ihm arbeitet sie aber nur sechs Stunden am Tag: „Das haben wir gemeinsam so arrangiert.“ Damit er seine Kinder aufwachsen sieht, will er verschiedene Tätigkeiten nun stärker an andere Personen abgeben, die er gerade ausbildet. Dann heißt es für ihn: Weniger Einsatz im Startup-Geschäft, dafür mehr Verantwortung im kleinen Familienunternehmen. Schließlich soll auch das zweite Kind noch nicht das letzte sein.

Lesetipp: Weitere Portraits zu Gründerinnen und Gründern gibt es in unserer Themensammlung “Gründer im Portrait.

Passend zum Thema: “‘Als Kind wollte ich immer Tierarzt werden’ – 15 Fragen an Marcus Seidel“.

Yvonne Ortmann

Seit Mai 2009 schreibt Yvonne für deutsche-startups.de Gründerportraits, Start-up-Geschichten und mehr – ihre besondere Begeisterung gilt Geschäftsideen mit gesellschaftlich-sozialer Relevanz. Sie tummelt sich auch im Ausland – immer auf der Suche nach spannenden Gründerpersönlichkeiten und Geschäftsideen.