Gastbeitrag von Michael Theodossiou

Versicherungen: Bewährte Geschäftsmodelle müssen weg

Zweifelsfrei steht die Versicherungsbranche vor einem Umbruch. Sie sieht sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber: einer stärkeren Regulierung, dem chronischen Niedrigzinsniveau, einem enormen Kostendruck und selbstverständlich der Digitalisierung. Ist das das Ende? Nein, sagt Gastautor Michael Theodossiou.
Versicherungen: Bewährte Geschäftsmodelle müssen weg
Montag, 18. Juli 2016VonChristina Cassala

Zweifelsfrei steht die Versicherungsbranche vor einem Umbruch. Warum sollte sie auch eine Ausnahme darstellen? Sie sieht sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber: einer stärkeren Regulierung, dem chronischen Niedrigzinsniveau, einem enormen Kostendruck und selbstverständlich der Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle. Viele Wirtschaftszweige, darunter der Handel und die Tech-Branche, erleb(t)en durch die Digitalisierung einen radikalen Wandel.

Es stimmt: Versicherungsprodukte waren in der Vergangenheit oft kompliziert und schwer zu vergleichen. Ob sie künstlich intransparent gemacht oder gar kartellmäßig abgesprochen wurden? Nein, sicher nicht. Jeder Versicherer möchte mit seinen Produkten zunächst einmal möglichst viele Kunden (und Rating-Agenturen) für sich gewinnen. Für meinen Geschmack wurde in der Vergangenheit zu viel auf dem Reißbrett entworfen. Kunde und Vertrieb wurden nicht ausreichend einbezogen. Ein Fehler. Kundenbedürfnisse müssen zukünftig stärker denn je in den Mittelpunkt gestellt werden, zu Recht.

Versichertenbranche an Digitalisierungsstrategien

Die Versicherungsbranche wäre schlecht beraten, sich „Trends“ und Kundenwünschen zu widersetzen. Das tut sie auch nicht. Die meisten Versicherer arbeiten bereits an Digitalisierungsstrategien und wappnen sich für die Zukunft. Dass sie dabei Vorsicht walten lassen und nicht gleich in blinden Aktionismus verfallen, ist doch völlig in Ordnung. Schließlich geht es hier auch um den verantwortungsvollen Umgang mit Versichertengeldern.

Ganz sicher ist, der Erfolg steht und fällt nicht mit der Einführung digitaler Versicherungsordner – auch, wenn die Höhe der Investitionen und die Medienpräsenz zuweilen etwas anderes vermuten lässt. Ja, die Versicherungsbranche muss bereit sein, sich ein Stück weit selbst zu kannibalisieren und bewährte Geschäftsmodelle aufzugeben. Neue Produkte müssen situativ, einfach und individuell sein – auch wenn das Versicherungsmathematikern zuweilen Schweißperlen auf die Stirn treiben mag. Big Data eröffnet ihnen allerdings auch neue und effiziente statistische Verfahren (es fehlen allerdings noch Qualitätsstandards für den Umgang mit Big Data).

Einfache Prozesse und Beratungen werden von intelligenten Chatbots und Robo-Advisern übernommen – ohne Kaffee und Kuchen auf dem heimischen Sofa. Die Leistungsabwicklung wird für Kunden transparenter und einfacher. Sie müssen Leistungen in vielen Fällen nicht einmal mehr beantragen. Smart legal contracts und die dazugehörige Hardware (Smartphones, Wearables, Smart-Home-Lösungen, IoT) sorgen für eine schnelle, digitale, automatisierte und transparente Abwicklung von Zahlungsprozessen.

Niedrigzinsphase ist aktuell eine viel größere Bedrohung als InsurTechs

Viele Revolutionen tritt die Versicherungsbranche bereits selbst los. Sie wird unterschätzt, wenn man glaubt, dass sie „mit ihren Vertriebsstrukturen den Mehrwert aus technologischer Lösung plus persönlichem Know-how nicht bieten kann“. Sie verfügt über die Mittel und bei Bedarf auch über die Köpfe, um die digitale Transformation maßgeblich voranzutreiben.

Die langanhaltende Niedrigzinsphase und die zusätzliche, gesetzlich vorgeschriebene Rückstellung (Zinszusatzreserve) stellen für einige Versicherer aktuell eine viel größere Bedrohung als InsurTechs dar. Denn auch in Zeiten der Digitalisierung sind echte, disruptive – das ist es, das „D“-Wort – Innovationen doch eher die Ausnahme. Das Zeug dazu haben am ehesten noch Blockchain, echtes P2P (keine Rabattgruppierungen) und Big Data. Dass dabei, sofern überhaupt noch notwendig, Verträge online und mobil verwaltet werden, einverstanden.

FinTechs hinken ihrem Ruf hinterher

Gerne wird behauptet, die Versicherungsbranche hinke dem Bankenwesen drei bis fünf Jahre hinterher. Ich weiß nicht, wie man das so genau messen will, aber wie sehen die revolutionären Neuerungen im Bankenwesen überhaupt aus? Mit viel Wohlwollen kann man vielleicht den Erfolg von Paypal dazuzählen. Es gibt zwar etliche Fintech-Startups, ihre Geschäftsmodelle wollen aber nicht richtig in Schwung kommen. Nach wie vor quellen Portemonnaies vor lauter Karten über, überwiesen wird per IBAN & BIC, das Konto liegt bei den Banken und Sparkassen und Bargeld beult die Hosentaschen aus. Bei diesen Bildern hoffe ich persönlich doch sehr, dass die Versicherungsbranche in drei bis fünf Jahren deutlich weiter ist.

Imageproblem: die Gier in den 80er, 90er und 00er Jahren war zu groß

Versicherungsmaklern wird vorgeworfen, Verkäufer zu sein, keine Berater. Sie riefen ihre Kunden maximal einmal im Jahr an – um den Vertrag nicht zu verlieren. Ansonsten seien sie nur auf Abschlussprovisionen aus und berieten bzw. informierten ihre Kunden bewusst schlecht, um ihre Machtpositionen zu stärken. Arbeiten im Jahr 2016 halt noch sehr „traditionell“.

Das ist ungefähr so, als würde ich behaupten, InsurTech-Startups haben von Versicherungen schlichtweg keine Ahnung. Wer vertraue ihnen schon die Altersversorgung, das Vermögen, oder gar die Gesundheit an? Spätestens im Leistungsfall bekomme der Kunde die Quittung präsentiert. Der Kunde interessiere sie doch gar nicht. Statt dessen gehe es ihnen um vermeintlich skalierbare Geschäftsmodelle, um das Abgreifen von Bestands- und Absatzprovisionen, um schicke Büros in Berlin und um Venture-Capital, das bei der Finanzierung von Egotrips behilflich ist.

Zugegeben, der schlechte Ruf der Versicherungsbranche kommt nicht von ungefähr. Zu groß war die Gier in den 80er, 90er und 00er Jahren. Die unheilvolle Allianz aus absatz- und wachstumsgetriebenen Versicherern und provisionsorientierten und teils schlecht qualifizierten Vertrieben, schadete dem Berufszweig nachhaltig. Doch vieles hat sich geändert. Im Vertrieb ist kein schnelles Geld mehr zu verdienen. Die Höhe der Provisionen ist reguliert und muss über die Jahre abschließend verdient werden. Eine selbst auferlegte Brancheninitiative soll zudem die kontinuierliche Weiterbildung von Versicherungsvermittlern sicherstellen.

Der Kunde rückt (endlich) in den Vordergrund. Das mag für manch einen überraschend klingen, aber das schockt viele Versicherungsvermittler überhaupt nicht. Im Gegenteil, endlich werden Kundenorientierung und die eigene gute Arbeit wertgeschätzt.

InsurTechs bringen frischen Wind in die Branche – der Mix machts

Für viele Insurtech-Startups gilt selbstverständlich auch: viele Lösungen sind innovativ und praktisch; sie schauen gut aus und treffen den Nerv der digitalen Zeit. Ob sie auch das Zeug haben, bestehende Geschäftsmodelle abzulösen oder neue Märkte zu schaffen? Wir werden sehen. Grundsätzlich bringen sie einen frischen Wind in die Branche. Das tut ihr gut.

Den zitierten Mix aus technologischer Lösung und persönlichem Know-how seh ich bei vielen Anbietern reiner digitaler Versicherungsordner, hingegen (noch) nicht. Auch hier wird meines Erachtens die Komplexität bestehender Versicherungsprodukte unterschätzt. Entweder InsurTechs eignen sich das erforderliche Know-how an – das aber braucht sehr viel Zeit und kostet viel Geld – oder das fachliche Know-how wird vertraglich ausgeklammert und es wird sich auf die App-Entwicklung und die Digitalisierung von Dokumenten konzentriert.

Doch was bleibt dann wirklich übrig? Und rechtfertigt das den Anspruch auf die Bestandsprovision? Wie wollen diese InsurTechs ihr Geschäftsmodell fortan monetarisieren? Es gibt bereits Geschäftsmodelle, die sich das Know-how von qualifizierten Maklern zunutze machen (und umgekehrt). FinanceFox, Allesmeins, Meine Finanzapp, Asuro, Treefin, Simplr und Mobilversichert seien an dieser Stelle beispielhaft genannt. Kunden pflegen ihre Verträge online und mobil und greifen bei Bedarf auf „echtes“ Know-how zurück. Responsive Webseiten, Vergleichsrechner, moderne CRM- und Maklerverwaltungssysteme, Omnichannel-Kommunikation, konfigurierbare Chatbots, Apps für Produkt- und Nischenversicherungen … die Liste an digitalen Helfern wächst und wächst.

Die Technologie arbeitet plötzlich für und nicht gegen den klassischen Vertrieb. Nicht alle Vermittler werden das Angebot annehmen und den Weg gehen (können). Wer’s macht, braucht einen Verdrängungswettbewerb und die digitale Transformation aber nicht fürchten.

… und wenn ich mir zum Schluss auch noch etwas wünschen darf, dann ist das ein intensive(re)r und offene(re)r Austausch zwischen Insurtechs, digitalen und analogen Versicherungsmaklern und weniger „Yeah, wir mischen die Versicherungsbranche auf“-Parolen; die sind ganz ehrlich nur peinlich.

Zur Person:
Michael Theodossiou ist unabhängiger Versicherungsmakler und Unternehmer aus München und seit 25 Jahren in der Versicherungsbranche tätig. Unter @AssDigital begleitet er das InsurTech-Thema auf Twitter.

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Foto: business man writing insurance concept from Shutterstock

Christina Cassala

Christina Cassala, Redakteurin bei deutsche-startups.de, war schon zu ihren besten Uni- Zeiten in den 90er Jahren journalistisch tätig. Gleich nach dem Volontariat arbeitete sie bei einem Branchenfachverlag in Hamburg, ehe sie 2007 zu deutsche-startups.de stieß und seither die Entwicklungen der Start-up Szene in Deutschland mit großer Neugierde beobachtet.